Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
geboren.
Rüdiger und Adelheit bauten sich ein Haus im östlichen Teil des Gartens. Sie bekamen die Zwillinge Hilte und Judith, anschließend ihren Sohn Wetzel.
Dreißig Jahre später lebten bereits drei Enkelfamilien von Lancelot und Gudrun, die einige Jahre zuvor beinahe gleichzeitig gestorben waren, im Sakriversum. Ekkehard hatte Judith geheiratet, Friedrich Hilte und Wetzel Breida.
In der vierten Generation tauchte zum erstenmal ein ernstes Ernährungsproblem auf. Obwohl mehr Kinder als in den vergangenen Jahren geboren wurden, starben einige schon früh. Andere waren von merkwürdig kleinem Wuchs. Sie wußten nicht, daß auch draußen die Bauern arm geworden waren. Im Sakriversum lebten die Familien frei und ohne Fürstenfron. Ihr Stammvater Roland von Coburg und später auch sein Sohn Anselm hatten über dem hohen Gewölbe des Mittelschiffs die besten Voraussetzungen für ein klösterlich-bäuerliches, von der Welt abgeschiedenes Leben geschaffen.
Tausende von winzigen, geschliffenen Beryllos-Linsen im Bleidach der Kathedrale versorgten die Abgeschiedenen mit Licht. Humus auf Kalk und Mörtelgrund über den Gewölbebogen bildete die Grundlage für bescheidene, aber bisher ausreichende Ernten. Sie lebten wie in einem allseitig ummauerten Garten - so lange, bis dieser Garten zu klein für sie geworden war ...
Zwei Generationen später, im Jahre 1450, beschlossen die Familienväter, daß fortan höchstens zwölf Familien im Sakriversum leben durften. Keine Familie sollte mehr als sechs Angehörige haben, die Großeltern und Kinder eingeschlossen.
Dennoch folgten zweieinhalb Jahrhunderte bitterster Not. In manchen Jahren überlebten nur drei, vier Angehörige einer Familie. Dazu kamen die Kämpfe mit den Nachkommen jener Ausgestoßenen, die von Anselm und den Nonnen des Klosters von Blaubeuren auf die andere Seite der hohen Wölbung unter dem Kirchendach gebracht worden waren.
Obwohl das Volk der Schander niemals den inneren Zusammenhalt verlor, bildeten sich in diesen dunklen Jahren Regeln, die an archaische Familiendiktaturen erinnerten: wenn das Gesetz befahl, töteten Väter ihre Söhne und Mütter ihre Töchter.
Der Raum unter dem Dach der Kathedrale reichte nicht mehr für alle, deshalb mußte das Recht der selektiven Inzucht auch gegen die Gebote der alten Schriften angewendet werden. Nur was klein war, hatte eine Überlebenschance. Das galt für Menschen ebenso wie für Tiere, Pflanzen, Blumen ...
Dreizehn Generationen nach der Verbannung von Lancelot und Gudrun stabilisierten sich die Lebensbedingungen wieder.
Die erste Wohnung, in der die beiden aufgewachsen waren, wurde zum Mittelpunkt eines Dorfes, zum festungsartigen Treffpunkt bei besonderen Gelegenheiten. Und sie nannten es Buch-Heim.
Für achtzig Jahre zogen Glück und Frieden ins Sakriversum ein, doch dann begann es erneut zu brodeln. Junge Schander , die nichts von den revolutionären Strömungen in den Städten der Weltlichen wissen konnten, erinnerten sich an das rastlos suchende Erbe der Ahnen in ihrem Blut. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert lehnten sie sich gegen verkrustete Strukturen auf, trafen sich heimlich im Licht des Abendzeichens an der Westseite des Sakriversums und schrieben Pamphlete gegen die Inzest-Gesetze der Geschwisterehen.
In diesen Jahren war der Numerus Clausus für die Gesamtbevölkerung des Sakriversums auf 108 Personen ± 3 festgelegt. Die durchschnittliche Körpergröße betrug anderthalb Fuß, die Lebenserwartung 44 Jahre.
Die Rebellen hatten keinen Erfolg. Man stellte ihnen frei, das Sakriversum zu verlassen, zu den auf der Nordseite hausenden Bankerts überzulaufen oder die Strafe der Ehelosigkeit auf sich zu nehmen.
Zwei Paare wanderten aus, zwei wurden später begnadigt und vier wurden einige Nächte darauf erschlagen und verstümmelt von den Bankerts bis zur Teufelsmauer zurückgebracht, die beide kleinen Welten voneinander trennte.
Gut zehn Prozent Esser weniger ...
Fünfhundertfünfzig Jahre nach dem Einzug von Lancelot und Gudrun ins Sakriversum entstanden neue Gefahrenquellen. Diesmal kamen sie nicht von innen, sondern von außen. Die Stadt unter den Türmen der Kathedrale veränderte sich. Mit atemberaubendem Tempo wurden die Straßen von Jahr zu Jahr breiter und die Häuser höher. Die Stadt uferte nach allen Seiten aus. Künstliche Tiere rannten wie fauchende Streitwagen durch die Straßen. Der Lärm von unten nahm zu, während gleichzeitig die Luft zum Atmen schlechter wurde.
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