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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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verloren ...
    Die damaligen Clan-Chefs hatten lange gezögert, bis sie notgedrungen eine alte Rebellenforderung sanktionierten: seit zwei Generationen durften auch Angehörige verschiedener Familien in Ausnahmefällen heiraten. Ulf, der als drittes Kind nach Ekkehard und Uta geboren war, hatte Lea, die Pflegetochter von Meister Lamprecht genommen.
    Sie hatten geheiratet, als Guntram und Agnes vor zwölf Jahren von den Bankerts ins Sakriversum zurückgebracht worden waren. Seit dieser Zeit warteten sie vergeblich auf Nachkommen.
    Guntram hatte oft gesehen, wie die beiden Hand in Hand und mit stiller Wehmut über die Felder gingen. Er mochte sie, weil sie so unglücklich und gleichzeitig so freundlich waren.
    Ulf hatte eine hohe Stirn, einen fast kahlen Kopf und nur von Ohr zu Ohr verlief ein Kranz weicher, blonder Haarfransen. Ulf galt als der beste Künstler, Zeichner und Baumeister des Sakriversums, auch wenn er sich bei der Landarbeit manchmal etwas ungeschickt anstellte.
    Lea hingegen war auch ohne Kinder eine willkommene Bereicherung für die Familie der Alchimisten. Sie wußte, wann Bohnen, Flachs und Kräuter gepflanzt werden mußten und verstand sich auf eine höchst praktische Artzney- Kunst. Was sie nicht wußte, hatte ihr Meister Wolfram nach und nach beigebracht. Extrakte, Emulsionen und Elixiere vom Theriak-Wasser gegen die Pest über Oleum Saponis gegen Gicht bis zum Elixyr Citri gegen die Schwachheit des Hauptes und ansteckende Luft waren ihr ebenso geläufig wie vielerlei Mittel gegen Schlagfluß und andere Krankheiten. Nur ihr selbst hatten weder Melisse noch Eichenmisteln gegen die Unfruchtbarkeit des Leibes geholfen ...
    Nach Meister Wolfram war Lea mit ihrem schönen, aber oft streng und verhärmt wirkenden Gesicht die einzige in der Familie, vor der Guntram wirklich Respekt hatte. Sie war ganz anders als Mathilda, die resolute Tante, die immer wie eine Matrone über die Familie bestimmen wollte.
    Lea erinnerte Guntram manchmal an seine Mutter Uta.
    Sie merkte, daß er sie beobachtete. In all den Jahren hatte sie nie versucht, ihn und Agnes Mathilda streitig zu machen, obwohl Hanns und Mathilda inzwischen einen eigenen Sohn gehabt hatten. Ludolf war beim Abstieg in den Bleikeller tödlich verunglückt. Das böse Zeichen, durch das die Alchimisten-Familie auf elf Mitglieder verringert worden war, verdunkelte auch jetzt noch ihre Herzen.
    Aufgrund des Thing-Schwurs im Jahre 600 n. E., zwanzig Generationen nach dem Eintreffen der Stammeltern Lancelot und Gudrun im Sakriversum, durfte die 232 n. E. festgelegte Anzahl der Familienmitglieder nicht mehr sechs, sondern zwölf Personen betragen. Bei dieser Regelung war es genau hundert Jahre lang geblieben, obwohl auch durch die spätere Mischehen-Vereinbarung die Zwölf-mal-Zwölf-Zahl nur selten erreicht worden war ...
    Er zuckte zusammen, als Agnes ihn am Arm berührte.
    »Warum stehst du nur da und schaust?«
    »Ich weiß nicht mehr genau, was richtig ist«, seufzte er und versuchte, sich von den schweren Gedanken zu lösen.
    »Du meinst die Familien?«
    Guntram nickte.
    »Vorhin, als wir noch unter uns waren, kam es mir selbstverständlich vor, daß wenigstens wir beide die Hoffnung nicht aufgeben dürfen. Wir haben traurige Tage hinter uns, weil wir stets an Ludolfs Tod denken mußten. Aber jetzt kommen alle anderen, um mit uns zu sterben ...«
    »Werden denn Fehler kleiner, wenn viele sie begehen?«
    Sie lehnte sich gegen ihn und schmiegte sich an seine Brust.
    »Wach auf, Guntram! Wach bitte ganz schnell auf ... sonst ist es vielleicht zu spät!«
    Er biß die Zähne zusammen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß die vielen Männer, Frauen und Kinder seines Volkes deshalb zu ihnen kamen, um zu sterben. Die ersten anderen Clan-Chefs betraten die oberste Bohlenplattform. Guntram erkannte Meister Wirnt aus der Müller-Familie, Meister Bieterolf, dessen Familie sich auf Winzerei und Braukunst verstand, und Meister Friedrich, der mit seiner Familie für die Herstellung von Schnüren, Seilen und Tauwerk zuständig war.
    Jede der zwölf Familien hatte im Sakriversum einen eigenen Hof mit Gärten und einem Streifen Land. Die Felder östlich und westlich des Dorfes wurden gemeinsam bewirtschaftet. Niemals waren in den vergangenen Jahrhunderten fahrende Handwerksgesellen im Sakriversum aufgetaucht. In den Familien wurden daher noch immer die alten Fertigkeiten gepflegt ...
    Die drei zuerst eingetroffenen Clan-Chefs gingen über den Bohlentisch zu

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