Das Schattenbuch
soeben aus heiterem Himmel zugefallen waren, ihren Beständen
einzuverleiben. »Ich werde bald wieder einen schönen
Internet-Katalog machen können«, sagte sie
fröhlich. »Solche Geschenke könnte ich jeden Tag
gebrauchen.« Da sah sie, dass Arved den Erzählband in
den Armen hielt. »Drücken Sie ihm nicht die Luft ab.
Sie halten es ja wie ein kleines Kind – allerdings wie ein
Kind, auf dessen Weiterleben man keinen allzu großen Wert
legt.«
Arved schaute auf das Buch in seinen Armen. »Ich finde,
es ist zu schade, um weggeworfen zu werden. Wenn Sie erlauben,
nehme ich es mit.«
Lioba kniff die Augen zusammen. »Natürlich. Ich
stehe zu meinem Wort. Legen Sie es draußen auf die
Garderobe. Und dann kommen Sie her, wir haben noch gar nicht
palavert.«
Eine Stunde blieb Arved bei Lioba, wie immer. Sie unterhielten
sich über das Wetter, über Liobas letzte Einkäufe
und Geschäfte, über Arveds Katzen und sein Leben in der
Eifel, und als Arved sich endlich erhob, hatte er das Buch
vergessen. Er ging zusammen mit Lioba zur Haustür,
verabschiedete sich mit einem festen Händedruck von ihr und
trat die wenigen Stufen hinunter zur Krahnenstraße, als
Lioba ihm plötzlich zurief: »Nehmen Sie Ihr Buch mit!
Ich will es nicht haben!« Sie warf es ihm entgegen.
Arved fing es auf wie ein rohes Ei. Er winkte Lioba noch
einmal zu, sie winkte zurück und schloss die Tür.
»Bis zum nächsten Mittwoch«, murmelte er und
ging langsam durch die stille Krahnenstraße in Richtung
Innenstadt.
Das Schattenbuch ging mit ihm.
2. Kapitel
Arved war froh, als er sein Haus in Manderscheid erreicht
hatte. Er war in Trier in einen fürchterlichen Stau geraten,
und heftiger Regen hatte die Fahrt über die Autobahn zu
einer Tortur gemacht. Erst kurz vor der Abfahrt hatte sich das
Wetter gebessert.
Die beiden Katzen begrüßten ihn in der Diele. Er
bückte sich, um sie zu streicheln, wie er es immer tat, wenn
er nach Hause kam. Lilith und Salomé sprangen auf ihn zu,
doch dann blieben sie stehen, tänzelten ein paar Schritte
zurück und verschwanden im Wohnzimmer. Arved richtete sich
wieder auf und sah erstaunt zu, wie die beiden schwarzen
Schwanzspitzen im Gleichschritt durch die Tür huschten. Dann
fiel sein Blick auf das Buch, das er noch unter den Arm geklemmt
trug. Ob es vielleicht einen Geruch ausströmte, der den
Katzen unangenehm war? Er zuckte die Achseln und folgte den
beiden Tieren ins Wohnzimmer. Dort legte er das Buch auf den
niedrigen Couchtisch, auf dem außer einer kleinen Vase mit
einer künstlichen Blume nichts stand. Die Marmorplatte war
wie ein unberührtes Schneetuch.
Arved ließ sich schwer in das Polster des englischen
Ledersofas fallen und seufzte auf. Von den Katzen war nichts zu
sehen; es war, als gäbe es sie gar nicht mehr. Noch vor
einigen Monaten hätte Arved dies keineswegs schlimm
gefunden, denn sie waren ein Teil des Erbes, das Lydia Vonnegut
ihm hinterlassen hatte, und es war schwer für ihn gewesen,
sich an diese beiden dunklen, rätselhaften Geschöpfe zu
gewöhnen. Doch inzwischen gefiel ihm ihre Gegenwart.
Er schaute durch das breite Fenster auf die Wiese mit den
knorrigen Obstbäumen. Kühe stapften träge durch
das hohe Gras und kauten mit wohlabgemessenen Bewegungen und ohne
jegliche Hast. Arved liebte dieses Bild, das ihn vom
Frühjahr bis zum Herbst begleitete. Dieser Ausblick war so
viel angenehmer als der in der engen Palmatiusstraße in
Trier, in der Lydia Vonneguts Haus stand. Er
beglückwünschte sich noch einmal zu der Entscheidung,
es zu verkaufen und hierher zu ziehen. Er hätte nicht dort
bleiben können – nicht nach seinen Erlebnissen, die in
jener Hexennacht des vergangenen Jahres ihren Ausgang genommen
hatten und ihm manchmal wie aus einem anderen Leben erschienen.
Immerhin hatte er durch die Ereignisse Lioba Heiligmann kennen
gelernt; sie war ihm während der zurückliegenden Monate
sehr ans Herz gewachsen. Doch obwohl er sich jede Woche mit ihr
traf, wusste er nur sehr wenig über sie.
Arved rutschte auf dem Sofa ein wenig nach vorn, griff nach
dem Erzählband und blätterte darin herum. Er hatte noch
nie etwas von einem Autor namens Thomas Carnacki gehört,
aber das war nicht verwunderlich, denn er kannte sich in der
Literatur nicht gut aus. Eigentlich hatte er das Buch nur
mitgenommen, weil es ihm Leid getan hatte. Es war so schön
und so liebevoll gemacht, viel zu schade für die
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