Das Schattenbuch
Er war das, was man beschönigend
»vollschlank« nannte, seine welligen, blonden Haare
hatten sich gelichtet, und er entsprach beileibe keinem
Schönheitsideal, war kein brillanter Plauderer, kein
Draufgänger, kein selbstbewusster Mensch. Er traute sich
nicht einmal, ihr das Du anzubieten, was er vor sich selbst damit
rechtfertigte, dass sie die Ältere war und daher dieses
Angebot von ihr kommen müsse. Er hätte gern mehr aus
ihrem früheren Leben erfahren, doch darauf kam sie nie zu
sprechen.
Es wurde dunkel. Arved machte sich nicht die Mühe, das
Licht einzuschalten. Er beobachtete das Erstarken der Schatten,
und erst als er nur noch Schemen erkennen konnte, fiel ihm auf,
dass die beiden Katzen noch immer nicht um ihr abendliches Futter
bettelten. Normalerweise strichen sie ihm ab neun oder zehn Uhr
um die Beine, maunzten, rannten immer wieder in die Küche,
wie um Arved anzulocken, doch heute Abend blieben sie unsichtbar
und unhörbar. Verdutzt stand Arved auf und schaltete das
Licht an. Grün und gelb fiel es aus der
Jugendstil-Deckenlampe und verband sich mit den Schatten, ohne
diese wirklich zu vertreiben.
»Lilith! Salomé!«, rief er. Keine Reaktion.
Da musste er wohl schwerere Geschütze auffahren. Er ging in
die Küche und raschelte mit der Dose, in der sich das
Trockenfutter befand – die Bobbels, wie er sie immer
nannte. Als auch daraufhin die Katzen nicht angestürmt
kamen, machte er sich ernstlich Sorgen. Er schaute auf seine
Armbanduhr. Schon kurz vor elf. »Lilith?
Salomé?«
Er ging zurück ins Wohnzimmer und überprüfte
die Balkontür. Sie war verschlossen, draußen konnten
die beiden schwarzen Teufelchen nicht sein. Dann suchte er das
ganze Haus nach ihnen ab, wobei er die Futterdose mitnahm und sie
immer wieder aufreizend schüttelte.
Er fand die Katzen im Keller, dicht aneinander geschmiegt. Sie
schauten ihn mit großen Augen an, schienen aber gesund und
munter zu sein.
»Was ist denn mit euch los?«, fragte Arved, der
schon lange die Gewohnheit angenommen hatte, mit seinen Tieren zu
reden. Er schüttelte die Dose noch einmal, und die Katzen
spitzten die Ohren. Sehr zögerlich standen sie auf, reckten
sich, und noch zögerlicher folgten sie ihm nach oben in die
Küche. Dort schüttete er die Bobbels in die Näpfe,
und die Tiere vergaßen ihre seltsame Angst und fielen
über das Futter her. Bald knirschte und knurpste es nur
noch. Arved schüttelte den Kopf, stellte ihnen noch ein
Schälchen mit frischem Wasser hin und ging wieder ins
Wohnzimmer zu seinem neuen Buch.
Die nächste Novelle, die den Titel Vor des Messers
Schneide trug, erzählte von einem Mann, der mit zwei
Frauen ein doppeltes Spiel gespielt hatte. Die beiden taten sich
zusammen, überwältigten den Mann, einen angesehenen
Arzt, und entführten ihn. Nun begann erst die eigentliche
Geschichte. Der Mann wurde gefesselt und auf einen Stuhl
geschnallt, vor dem in einer Entfernung von etwa zwei Metern eine
mannshohe Bretterwand mit eingelassenen Messern stand, deren
Klingen auf ihn deuteten. Diese Wand war beweglich und wurde
durch starken Federdruck in ihrer Position gehalten. Die beiden
Frauen, die über den Arzt zu Gericht saßen,
erklärten ihm, die Messerwand werde in genau zwei Stunden
nach vorn schnellen und ihn durchbohren, denn sie sei mit einer
Zeitschaltung versehen. Er könne seinem Schicksal nur
entgehen, indem er ihnen eine annehmbare Entschuldigung für
sein abscheuliches Verhalten biete. Zwei geschlagene Stunden
versuchte der Gefesselte sich zu retten, doch in den Augen der
Frauen fand er keine Gnade. Der Autor beschrieb das Ende des
Unglücklichen mit großer Detailverliebtheit, die Arved
den Magen umdrehte. Die beiden Frauen entwickelten sich in ihrer
Unbarmherzigkeit und Rachsucht zu gleichsam dämonischen
Wesen, die zum Schluss keiner menschlichen Regung mehr fähig
waren. Diese Novelle war so gruselig intensiv, dass Arved nicht
mehr weiterlesen konnte. Die Illustration hingegen hatte
offenkundig nichts mit der Geschichte zu tun. Seltsam…
Er schob das Buch fort, wusste nicht, ob er fasziniert oder
angewidert sein sollte, und bekam geradezu Angst vor der letzten
Geschichte. Er wollte sie auf keinen Fall vor dem Schlafengehen
lesen. Für heute reichte es. Er zog sich um und begab sich
ins Schlafzimmer im oberen Stock. Es wurde eine unruhige
Nacht.
Arved träumte zwar nicht von den beiden Geschichten, die
er gelesen hatte, aber sein
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