Das Schattenbuch
Mülltonne. Er vertiefte sich in die Holzschnitte.
Den ersten, der zu der Geschichte mit dem Titel Die
Sammlerin gehörte, hatte er ja schon bei Lioba
betrachtet. Auch jetzt noch erinnerte ihn der grob und doch
eindrucksvoll hingeworfene Bibliotheksraum an das Zimmer, in dem
Lioba ihn zu empfangen pflegte. Der seltsame Fortsatz, der aus
dem geöffneten Buch hervorwuchs, war ihm hingegen
unheimlich.
Der zweite Holzschnitt stellte eine Waldlichtung mit einem
einzelnen Stumpf in der Mitte dar, neben dem etwas auf dem
abschüssigen Boden stand, das wie ein Bierfass wirkte. Der
Stumpf schien eine Krone zu tragen, aus der etwas hervorragte,
das wie ein riesiger Nagel wirkte. Entweder waren die
Fähigkeiten des Künstlers begrenzt gewesen, oder er
hatte mit diesem Ensemble etwas ausdrücken wollen, das sich
nur durch die Geschichte erschloss. Der dritte Holzschnitt
hingegen schien einen seltsamen, mit phantastischen Verzierungen
geschmückten Spiegel in einem kahlen, unmöblierten
Zimmer darzustellen. Weder auf dem Titelblatt noch sonst wo in
dem Buch gab es einen Hinweis auf den Künstler – das
Buch hatte keinen Druckvermerk, aus dem sich die
Auflagenhöhe, der Drucker oder der Buchbinder ergaben. Nicht
einmal Druckort und Druckjahr waren zu ermitteln. Bei dem
wunderbaren braunen Ledereinband mit den fünf Bünden
handelte es sich jedoch um eine meisterliche Arbeit, das war
selbst Arved klar.
Er holte aus der Küche ein Himmeroder Klosterbier und
machte es sich wieder auf dem Sofa bequem. Zwei Schluck des
würzigen Starkbiers tauchten sein Gemüt in
mönchischen Frieden und stimmten ihn auf das Leseerlebnis
ein. Er verschlang die erste Geschichte und vergaß
darüber Zeit und Welt. Als er fertig war, rieb er sich die
Augen, trank das Glas leer und goss sich ein zweites ein.
Es war eine Geschichte über eine Sammlerin, eine
Büchersammlerin, genauer noch eine Sammlerin von Occulta,
die völlig in ihrer Sammelleidenschaft aufging und gar nicht
bemerkte, wie einsam sie eigentlich war. Obwohl sie viel
jünger als Lioba war, erinnerte sie Arved doch an die
Antiquarin. Durch einen Zufall lernte die Frau einen älteren
Sammler kennen, der ihr gegenüber bald tiefe Gefühle
empfand, die sie jedoch nicht wahrnahm. Der Sammler, ein reicher
Mann jenseits aller weltlichen Sorgen, einsam wie die junge Frau,
sich seiner Einsamkeit aber schmerzlich bewusst, beging
Selbstmord, als er begriff, dass er das Herz seiner großen
Liebe nie würde für sich einnehmen können. Von nun
an suchte er sie als Geist heim. Zuerst bemerkte sie auch dies
nicht, doch bald konnte sie nicht mehr verleugnen, dass sie von
einem Phantom verfolgt wurde. Seine Liebe, die er im Leben
empfunden hatte, war nun in Hass gewandelt, und er stürzte
die junge Frau schließlich von einem hohen Turm in den
Tod.
All dies war in einer lyrischen und zugleich harten Sprache
geschildert, die Arved sehr anrührte. Wie er selbst die
Einsamkeit kannte! Wie er die Gefühle der beiden
Hauptpersonen nachvollziehen konnte – auch jene der jungen
Frau, denn in Arveds Leben hatte es ebenfalls eine Zeit gegeben,
in der er mit großer Leidenschaft gesammelt hatte, um sich
von dem Leben, das ihn als Pfarrer täglich umtoste,
abzulenken. Er hatte Reliquien und Reliquiare in großer
Zahl angehäuft. Ein paar Monate nach seinem Fortgang aus
Trier hatte er die ganze Sammlung verkauft und eine hübsche
Summe dafür erhalten. Er war froh, diesen Ballast nicht mehr
durch sein Leben schleppen zu müssen, doch was
Sammelleidenschaft war und wie sehr sie einen von sich selbst und
von seiner Umwelt ablenken konnte, das wusste er nur allzu
gut.
Er klappte das Buch zu und legte es behutsam auf den Tisch mit
der hartweißen Platte. Seine Gedanken schweiften wieder zu
Lioba.
Sie lebte allein, schien keinen Freund, keinen Liebhaber zu
haben, was angesichts ihrer forschen Art und ihrer
unbestreitbaren, reifen Schönheit, die ihre unmögliche
Kleidung nicht vollständig verbergen konnte, erstaunlich
war. Hatte sie immer schon allein gelebt, oder war sie einmal
– oder mehrmals – verheiratet gewesen? Arved mochte
ihre offene Art, ihre Unkompliziertheit, und er hatte oft den
Eindruck, dass er selbst das genaue Gegenteil von ihr war. Er
wunderte sich über sich selbst, dass er es wagte, sie
beinahe jede Woche zu besuchen. Es schien ihr nicht unangenehm zu
sein, aber er war sich keinesfalls sicher, was sie über ihn
dachte.
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