Das Schattenbuch
Traum hing mit dem Schattenbuch
zusammen. Er sah seine beiden Katzen, wie sie das Buch
belauerten, dann kroch etwas zwischen den Seiten hervor, das die
Tiere umschlang und zerquetschte. Von ihren kläglichen
Schreien wachte er auf.
Die Katzen schrien tatsächlich.
Arved sprang aus dem Bett und lief die knarrende Treppe
hinunter. Lilith und Salomé hockten im Wohnzimmer und
jaulten beinahe wie Hunde. Arved schaltete das Licht ein. Er
bemerkte nichts Außergewöhnliches, alles war wie am
vergangenen Tag. Das Buch lag auf dem weißen Couchtisch,
die Blume stand daneben, die Möbel… Arved
stutzte.
Die Blume.
Es war eine künstliche Lilie, die Lioba ihm einmal
geschenkt hatte. Sie war verwelkt.
Arved trat unsicher vor sie und hob sie aus der Vase mit der
kleinen Öffnung. Das ehemals frische Weiß der
Blüte und das starke Grün des Stängels und der
Blätter waren braun geworden. Angewidert warf er die
schlaffe Blume auf den Tisch. Die beiden Katzen hatten zu jaulen
aufgehört. Sie machten einen Buckel, und ihr Fell war
gesträubt. Er versuchte sie zu beruhigen und zu streicheln,
doch sofort schossen sie wie zwei schwarze Blitze aus dem Zimmer.
Arved ging zurück nach oben ins Bett. Er lag noch eine Weile
wach, aber die Stille des Hauses und des Dorfes wiegte ihn
endlich wieder in den Schlaf.
Am anderen Morgen war er sich ziemlich sicher, dass die
verwelkte künstliche Blume nur ein Traum gewesen war.
Nachdem er sich gewaschen und angezogen hatte, stieg er
vorsichtig nach unten. Was wäre, wenn die Lilie wirklich in
Verwesung übergegangen war? Arved näherte sich der weit
offen stehenden Wohnzimmertür. Und erstarrte im Rahmen.
Die Lilie lag neben der Vase, beinahe über dem Buch. Sie
war braun. Mit zwei Schritten war Arved bei ihr. Hob sie auf. Das
Braun glitt ab von ihr. Es waren nur Schatten gewesen. Die
Blüte war jetzt strahlend weiß, Stängel und
Blätter grün, so wie es sich gehörte. Arved atmete
auf und stellte die Blume zurück in die Vase. Warum hatte
sie daneben gelegen? War er wirklich in der Nacht hier gewesen?
Oder hatten die Katzen vielleicht die Blume aus der Vase gezerrt?
Das sah ihnen gar nicht ähnlich. Wo waren sie
überhaupt?
Arved hatte sich bereits darauf eingerichtet, wieder auf die
Suche nach ihnen gehen zu müssen, doch er fand sie in der
Küche, wo sie vor ihren leeren Näpfen saßen und
ihn vorwurfsvoll anstarrten. Er gab ihnen eine Sonderportion
Bobbels und legte sich auf die Couch. Aus den Augenwinkeln sah
er, dass die Kaminuhr, die in Ermangelung eines Kamins ein wenig
unpassend auf der Mahagonianrichte stand, bereits halb zwölf
anzeigte. Arved zog verwundert die Brauen hoch und gähnte.
Er fühlte sich nicht einmal ausgeschlafen. Das Buch hatte
ihn stärker beschäftigt, als er vermutet hätte. Er
las die dritte Geschichte.
Sie trug den Titel Täter und Opfer und handelte
von einem Kommissar, der eine Mordserie aufzuklären hatte,
in der die Opfer zumeist mit gewaltigen Messern abgeschlachtet
wurden. Immer legte der Täter Spuren, die der Kommissar zu
spät entdeckte. Eine Leiche jedoch fand er nie; es blieben
jeweils nur Blut oder Speichel des Opfers oder die Tatwaffe
zurück, wodurch eine Identifizierung eindeutig möglich
war. Manchmal erhielt er die Waffe auch mit der Post zugeschickt.
Doch in einem außergewöhnlichen Fall kam der Kommissar
rechtzeitig. Es gelang ihm, das Opfer zu befreien, dem eine Maske
über das Gesicht gestülpt worden war, die sich
allmählich zusammenzog. Der Kommissar nahm die Stelle des
Opfers ein, legte sich die Maske an, die sich sogleich an ihm
festsaugte, und wartete auf den Mörder, während seine
Kollegen schussbereit vor dem leeren Fabrikgebäude lauerten.
Doch der Mörder erschien nicht. Immer enger zog sich die
Maske zusammen. Als der Kommissar schon nicht mehr um Hilfe rufen
konnte, begriff er endlich, dass er selbst es gewesen war, der
die übrigen Opfer getötet hatte. Und nun war er sein
eigenes, letztes Opfer. Über dieser Erkenntnis erstickte
er.
Puh! Arved verzog den Mund. Was für ein Buch! Er konnte
nicht behaupten, die Geschichten schön zu finden, wenn er
von gewissen lyrischen Passagen in der ersten Novelle absah, aber
er musste zugeben, dass sie ungeheuer intensiv waren. Der Autor
schien irgendeinen Trick anzuwenden, mit dem er den Leser
unbarmherzig in die Handlung hineinzog. Arved hatte keine Ahnung,
wie dieser Thomas Carnacki das geschafft hatte,
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