Das Schattenkind
1.
"Mommy!"
"Manuel!" Mit ausgebreiteten Armen rannte Laura Newman dem kleinen, blonden Jungen entgegen, der zwischen hohen Bäumen oben auf dem Hügel stand. Der Weg zog sich endlos dahin. Obwohl sie rannte, schien sie kaum vorwärts zu kommen.
"Mommy!" rief Manuel erneut und winkte, dann drehte er sich langsam um.
"Manuel, lauf nicht fort! Warte auf mich!"
Laura rannte noch immer, doch sie spürte, daß es auch dieses Mal vergebens war. Sie würde ihren Sohn niemals in die Arme schließen können. Seit Jahren lief sie diesen Hügel hinauf, hof f te, Manuel zu erreichen, aber jedesmal, wenn sie glaubte, es geschafft zu haben, verschwand der Junge von einer Sekunde zur anderen.
Manuel wandte sich ihr noch einmal zu. Nur noch wenige Meter trennten sie voneinander. Er lachte, streckte die Hand nach ihr aus. "Mommy", sagte er leise.
Laura konnte schon fast seine Finger berühren. Erleichtert atmete sie auf, aber im selben Moment verschwand das Kind. Keuchend blieb sie stehen, starrte fassungslos auf die Stelle, an der ihr Sohn noch eben gestanden hatte. Noch immer glaubte die junge Frau, seine Stimme zu hören. Eine unendliche Trauer erfüllte ihr Herz. Tränen rannen über ihr Gesicht.
Laura erwachte. Bewegungslos lag sie im Bett und starrte in die Dunkelheit. Langsam, unendlich langsam hob sie die rechte Hand und berührte ihr Gesicht. Ihre Finger wurden feucht von den Tränen, die sie im Traum g e weint hatte.
Warum? Warum konnte sie ihren Sohn nicht verge s sen?
Die junge Frau richtete sich auf und schaltete das Licht ein. Ihr Blick fiel in den Venezianischen Spiegel, der oberhalb einer sehr alten Kommode dem Bett gegenüber an der Wand hing. Automatisch strich sie sich ihre lange, blonden Haare zurück, dann stand sie auf und trat auf den kleinen Balkon hinaus. Ihr Blick glitt über die weißen Häuser Capris auf das Meer hinaus.
Unmöglich, jetzt wieder einzuschlafen, dabei hatte sich Laura für den nächsten Tag sehr viel vorgenommen. Ihre Arbeitgeberin, Muriel Winslow, feierte in drei Wochen ihren sechzigsten Geburtstag. Zu der Party, die am Abend stattfinden sollte, wurden an die hundert Gäste erwartet. Die Einladungen mußten unbedingt bis Ende der Woche herausgeschickt werden. Außerdem arbeitete sie an Muriels Memoiren. Um die Umbauten im Wintergarten mußte sie sich auch kümmern. Dann waren da noch...
Laura verzog das Gesicht. Sie wußte nur zu gut, daß sie selbst es war, die sich mit Arbeit überhäufte. Natürlich mußten all diese Dinge erledigt werden, doch Mrs. Winslow war eine äußerst angenehme Arbeitgeberin, die ihr niemals irgendein Zeitlimit setzte, sondern sie ständig ermahnte, nicht zu übertre i ben.
"Ich habe hier in Italien gelernt, daß man nicht nur arbeiten soll, sondern auch das Leben genießen", hatte sie erst neulich wieder zu ihr gesagt. Roy, ihr achtundzwanzigjähriger Sohn, hatte ihr beigestimmt. "Sie sind viel zu hektisch, Laura. Sie r a sen geradezu durch das Leben."
Ein Lächeln umspielte die Lippen der jungen Frau. Sie mochte Roy Winslow. Vom ersten Tag an waren sie gut miteinander ausgekommen. Seine Freundschaft bedeutete ihr viel, wenn sie auch das Gefühl nicht los wurde, daß Roy mehr e r wartete als nur Freundschaft.
Resignierend seufzte sie auf. Das Leben konnte manchmal wirklich kompliziert sein. Warum ging bei anderen Menschen immer alles glatt? Auf ihrem Weg schien ein Stolperstein nach dem anderen zu liegen. Schon als Kind hatte sie das zu spüren bekommen.
Eine weiche, kühle Hand streifte ihren Arm. Die Berührung war kaum mehr als ein Hauch. Laura hielt den Atem an. Manuel, dachte sie und wagte nicht, sich umzusehen, weil sie wußte, daß hinter ihr ni e mand stehen würde.
"Mommy!"
"Manuel!" Die junge Frau fuhr herum. Sie nahm den Schatten eines kleinen Jungen wahr, doch noch bevor sie die Hand nach ihm ausstre c ken konnte, hatte er sich bereits au f gelöst.
"Mommy!" hörte sie wieder das Kind rufen.
Sie schlug die Hände vors Gesicht. Es konnte nicht sein. Sie pha n tasierte. Ihr Sohn war tot, seit über fünf Jahren tot. Aber noch immer glaubte sie, seine Stimme zu hören, obwohl sie diese Stimme bisher nur in ihren Trä u men wahrgenommen hatte.
Warum kannst du nicht vergessen? fragte sie sich und kehrte ins Zimmer zurück. Hatte sie sich nicht geschworen, noch einmal völlig von vorne anzufangen? Sie mußte sich endlich mit Manuels Tod abfi n den. So durfte sie jedenfalls nicht weitermachen, sonst würde sie eines Tages in eine
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