Das Schattenkind
sagte Laura erfreut.
"Jemand muß sich ja darum kümmern, daß Sie nicht völlig verhu n gern", erklärte die Köchin und ließ ihren Blick tadelnd über die schla n ke Gestalt der jungen Frau gleiten. "Ich will jedenfalls nicht schuld sein, wenn Sie eines Tages schlapp m a chen."
Laura trat mit der Limonade in den Garten hinaus. Die Villa der Winslows erhob sich direkt am Hang. Erst im letzten Jahr war der große, bis dahin verwilderte Garten in einen kleinen, englischen Park verwandelt worden. Auch wenn Muriel nie davon sprach, die junge Frau nahm an, daß Roys Mutter hin und wieder Heimweh hatte. In ihren Memoiren sprach Mrs. Winslow oft von dem alten Herrenhaus in Cornwall, in dem sie zur Welt gekommen war. Sie erzählte von ra u schenden Festen, Jagdgesellschaften und Familienfeiern. Zu den H ö hepunkten in ihrem Leben zählte ihre Vorstellung bei Hof, kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag. Noch jetzt schwärmte sie von diesem glanzvollen Tag.
Laura dagegen konnte sich kaum noch an England erinnern. Sie war knapp drei Jahre alt gewesen, als ihre Eltern bei einem Busunglück ums Leben kamen. Die Schwester ihres Vaters, die mit einem Italiener verhe i ratet war, hatte sie nach Rom geholt.
"Mommy!"
Die junge Frau fuhr heftig zusammen. Ganz deutlich hatte sie die Kinderstimme wieder gehört. Sie konnte nicht irgendeinem Kind in der Nachbarschaft gehören. Außer ihnen lebten hier keine En g länder.
Sieht aus, als würdest du doch noch verrückt, dachte sie bedrückt und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Sie mußte sich ablenken. Es ging nicht an, daß sie sich ihren Wahnideen hingab.
Kurz vor dem Lunch kehrte Roy Winslow aus seinem Büro zurück. Laura war gerade dabei, die letzte Einladung zu schreiben, als sie sein vergnügtes Pfeifen aus dem Garten hörte. Sie legte die Einladungskarte in die Unterschriftenmappe und griff nach einem Kuvert.
"Mommy, du mußt David helfen."
Es gelang der jungen Frau nicht, so zu tun, als hätte sie nichts g e hört. Ganz langsam drehte sie sich um. Vor der Tür bemerkte sie den Schatten eines Kindes. Sie holte tief Luft und stand auf. Ihre Knie zitterten, als sie auf den Schatten zuging. "Wer bist du?" fragte sie und streckte die Hand aus. "Es kann nicht wahr sein. Es..."
"Was kann nicht wahr sein?" fragte Roy hinter ihr, doch sie beac h tete ihn nicht. Noch immer starrte sie zur Tür. Die Konturen des Schattens wurden undeutlich. Schließlich löste er sich auf. "Laura, was haben Sie?" Der junge Immobilienmakler berührte ihre Schulter. E r schrocken zuckte sie zusammen. "Sie sehen ja aus, als sei Ihnen ein Geist begegnet", fügte er hinzu.
Laura riß sich zusammen. Sie atmete tief durch. "Vielleicht ist mir wirklich ein Geist begegnet", antwortete sie mit einer Stimme, die nicht ihr zu gehören schien. Fröstelnd zog sie die Schultern z u sammen.
"Laura, was ist nur mit Ihnen?" fragte Roy besorgt. Er legte den Arm um ihre Schultern und führte sie zu der kleinen Couch, die neben der Terrassentür stand. "Setzen Sie sich erst einmal."
Widerstandslos nahm die junge Frau Platz. Sie wandte den Kopf der Tür zu. Hatte sie das alles nur geträumt? Nein, es konnte nicht sein, dazu hatte sie die Stimme zu deutlich gehört. Sie stand auf und ging zur Tür. Vorsichtig berührte sie das weißlackierte Holz mit den Finge r spitzen.
"Ich meine, es ist an der Zeit, daß Sie mir erzählen, was Sie b e drückt", brachte sich ihr Roy wieder in Erinnerung. "Ich habe längst bemerkt, daß Sie von einer stillen Trauer erfüllt zu sein scheinen." Er nahm sie wieder in den Arm, ohne, daß sie sich dagegen wehrte. "Was ist passiert, Laura? Glauben Sie mir, es wird Ihnen guttun, sich ausz u sprechen." Er zwinkerte ihr zu. "Sie werden feststellen, daß ich ein ausgezeichneter Zuhörer bin."
"Es ist alles schon so lange her", sagte Laura fast tonlos. "Ich sollte es längst vergessen haben." Verlegen strich sie sich über die Augen.
Roy ergriff ihre Hände. "Was würden Sie davon halten, wenn ich Sie heute zum Abendessen einlade?" fragte er. "Ich kenne unten am Meer ein kleines Lokal, in dem man fast so gut ißt wie bei uns."
Die Sekretärin mußte lachen. "Eigentlich sollte man immer dort e s sen, wo es am besten schmeckt", erwiderte sie.
"Nicht jedes Restaurant kann über eine Mistress Adams verfügen", meinte der junge Mann. "Bitte, sagen Sie nicht nein, Laura." Er sah ihr in die Augen. "Oder haben Sie Angst, ich könnte mich ve r gessen?"
"Nein", erwiderte sie errötend
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