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Das Schicksal der Zwerge

Das Schicksal der Zwerge

Titel: Das Schicksal der Zwerge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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hoffte nur, dass seine Söhne im Gegensatz zu ihm eines Umlaufs in wirklicher Freiheit leben würden. Der Wind drehte und wehte nun aus Norden. Er trug den dreien einen wunderschönen Gesang zu, der sie mit den ersten Tönen rührte und die Härchen auf ihren Armen und im Nacken vor Ergriffenheit sich aufrichten ließ.
    Die Weise bestand aus einfachen Silben ohne Sinn, doch die Klarheit der Frauenstimme und das Gefühl darin bannte die drei an ihre Plätze und zwang sie dazu, in den Wald zu blicken, von wo sie erklang, bis sie leiser und leiser wurde und schließlich nicht mehr zu hören war.
    Ortram wandte sich mit verzücktem Gesicht an seinen Vater. »Was war das?« Hindrek erschauderte und spürte Sehnsucht in sich. Sehnsucht nach mehr von dem, was er soeben hatte vernehmen dürfen. »Ich kann es dir nicht sagen. Vielleicht eine Wanderin, die sich die Zeit ihres Marsches mit einem Lied vertreiben wollte.« Cobert warf die Axt in den Schnee und ging schnurstracks auf die Bäume zu. »Ich möchte sehen, wie eine Frau aussieht, die eine solche Stimme hat«, rief er und rannte los.
    »Bleib!«, befahl ihm Hindrek und sprang vom Schlitten. »Wir haben Arbeit zu erledigen.« Doch er verstand den Wunsch seines Ältesten nur zu gut. »Warte!« Er folgte dem Sohn, der zwischen den Stämmen verschwand. Gut, dass er nun einen Vorwand hatte, dem Gesang zu folgen, ohne sich vor seiner Gemahlin rechtfertigen zu müssen. »Ortram, du wartest hier. Ich gehe und achte auf deinen Bruder.«
    Er sah Coberts Flickenmantel vor sich zwischen den Bäumen verschwinden. Der Junge legte eine enorme Geschwindigkeit vor. Wie besessen trieb es ihn vorwärts, und er zog seinen Vater tiefer in den Forst; bald schwitzte der Wildhüter gewaltig unter seinem Mantel.
    Die Schatten wurden dichter, und es schien mit einem Mal, dass die Sonne ihre Kraft verlor, je weiter sie sich vom Haus entfernten. Hindrek wurde unheimlich zumute. »Cobert!«, rief er. »Bleib endlich stehen!« Er hielt inne und stützte sich an einer PalandiellTanne ab. »Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Es werden die Waldgeister sein, die sich einen Spaß mit uns erlauben wollen. Hörst du nicht?« Er hielt den Atem an und lauschte.
    Da setzte der Gesang wieder ein.
    All seine Vorbehalte wurden von den Tönen und der glasklaren Stimme ausgelöscht und ließen den Wunsch zurück, die Sängerin mit eigenen Augen zu sehen. Sie bewundern zu können und anihren Lippen zu hängen, während sie allein für ihn sang. Nur für ihn! Niemand sonst durfte in diesen Genuss kommen!
    Lodernde Eifersucht schoss in ihm hoch, und ohne dass es ihm bewusst wurde, zog er seinen schweren Jagddolch. Die kräftige, scharfe Klinge glänzte matt auf. Hindrek folgte der Melodie, die sich ganz in seiner Nähe befand.
    Aus seinen schnellen Schritten wurde ein Rennen, ein getriebenes Vorwärtsstolpern, das sich durch kein Hindernis aufhalten ließ. Der Wildhüter wollte die Frau sehen, die ihm solche Wonnen bereitete.
    Er kämpfte sich durch das Dickicht, durch den Schnee, durch reißende Dornenranken, über gestürzte Bäume hinweg.
    Er spürte keine Schmerzen, die Mundwinkel waren zu einem seligen Lächeln nach oben gezogen, während seine Augen fiebrig glänzten. Weiter, immer nur weiter! Dann kam er unerwartet zwei Schritte hinter seinem Ältesten zum Stehen. Er kniete barhäuptig vor einer Frau in einem schwarzen, mit Silberfäden bestickten Mantel. Aus ihrem Mund drang die Weise, der Cobert andächtig lauschte. Sie hatte die rechte Hand auf seinen blonden Schopf gelegt und streichelte ihn zärtlich wie den Kopf eines Liebhabers.
    Ihr Gesicht war voller Anmut, und selbst die schönste Frau, der Hindrek bislang begegnet war, verblasste vor ihr und schien ihm hässlich. In seinem Verstand gab es nichts anderes mehr als die wohlgestaltete Sängerin. Ihre langen schwarzen Haare wurden von einer leichten Brise bewegt und umrahmten ihr schmales Gesicht. Auf ihrer Stirn lag ein finsteres Diadem aus Tionium, Silber und Gold; zwei fingerkuppengroße Diamanten saßen funkelnd über den Augen.
    Durch Hindrek schoss glühender Neid, den nicht einmal die Melodie besänftigen konnte. Er wollte an der Stelle von Cobert sein, die zarten Finger der Frau auf sich spüren. Was wusste der Knabe schon von Liebe und Gefühlen?
    Seine Missgunst erfuhr im nächsten Augenblick noch eine Steigerung: Als Cobert die Wange gegen das Handgelenk der Frau drückte und zu einem Kuss ansetzte, warf sich Hindrek mit einem

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