Das Schicksal in Person
Herr mittleren Alters, sehr dünn, mit einem langen, melancholischen Gesicht, kam auf sie zu. Sie nahm an, dass dies Mr Broadribb sei. Bei ihm stand ein etwas jüngerer und dickerer Herr mit schwarzem Haar, kleinen, durchdringenden Augen und Ansatz zum Doppelkinn.
»Mein Partner, Mr Schuster«, stellte Mr Broadribb vor. »Ich hoffe, die Treppen waren nicht allzu beschwerlich für Sie«, sagte Broadribb entschuldigend. »Wir haben leider keinen Lift hier in diesem alten Haus. Die Firma existiert schon ziemlich lange, und wir haben uns nicht zu diesen modernen Errungenschaften entschließen können, die unsere Klienten vielleicht von uns erwarten.«
»Dieser Raum ist aber sehr hübsch in seinen Proportionen«, sagte Miss Marple höflich. Sie nahm auf dem Sessel Platz, den Mr Broadribb ihr zurechtgestellt hatte. Mr Schuster verließ unauffällig das Zimmer.
Aufrecht, wie es ihre Art war, saß sie da. Sie trug ein leichtes Tweedkostüm, eine Perlenkette und ein kleines Samtbarett.
Broadribb dachte bei sich: »Typisch Provinz. Aber gar nicht übel, das alte Mädchen. Mindestens fünfundsiebzig, wenn nicht schon achtzig. Vielleicht etwas zerstreut, vielleicht aber auch nicht. Erstaunlich wacher Blick. Woher Rafiel die wohl kannte? Vielleicht die Tante von irgendwelchen Bekannten?« Während er seine Beobachtungen machte, wechselte er mit ihr die üblichen einleitenden Worte über das Wetter, die schlimmen Auswirkungen des frühen Frosts und ähnliche Dinge. Dann kam er zur Sache:
»Sie werden sich fragen, weshalb ich Sie hergebeten habe. Sicher haben Sie erfahren, dass Mr Rafiel gestorben ist, vielleicht haben Sie es auch in der Zeitung gelesen.«
»Ja, ich las es in der Zeitung«, sagte Miss Marple.
»Er war, soviel ich weiß, ein Freund von Ihnen.«
»Ich habe ihn vor etwa einem Jahr kennen gelernt, in Westindien.«
»Ah ja, ich erinnere mich daran. Er hat die Reise damals aus Gesundheitsgründen unternommen. Sicher hat sie ihm gut getan, doch er war ja zu der Zeit schon ein sehr kranker Mann, wie Sie wissen.«
»Ja«, sagte Miss Marple.
»Sie kannten ihn gut?«
»Nein. Das kann man nicht sagen. Wir haben im gleichen Hotel gewohnt und haben uns gelegentlich unterhalten. Ich habe ihn seit meiner Rückkehr nach England nicht mehr gesehen. Ich lebe sehr zurückgezogen auf dem Lande, und er war ja geschäftlich immer sehr tätig.«
»Das stimmt«, sagte Mr Broadribb. »Und zwar bis zu seinem Tod. Ein bemerkenswerter Mann.«
»Und ein bemerkenswerter Charakter«, fügte Miss Marple hinzu.
Broadribb nickte, dann räusperte er sich. »Ich weiß nicht, ob Mr Rafiel jemals mit Ihnen über die Angelegenheit gesprochen hat, wegen der ich Sie hierher gebeten habe.«
Miss Marple schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann mir nicht denken, worum es sich handelt.«
»Er hatte eine sehr hohe Meinung von Ihnen.«
»Das war sehr freundlich von ihm, aber kaum gerechtfertigt. Ich bin eine ganz einfache Frau«, sagte Miss Marple bescheiden.
»Ich bin beauftragt, Ihnen zu sagen«, fuhr Broadribb nun fort, »dass für Sie eine bestimmte Geldsumme bereitliegt. Sie sollen sie nach Ablauf eines Jahres bekommen, vorausgesetzt, Sie übernehmen eine gewisse Aufgabe, mit der ich Sie bekannt machen soll.«
Broadribb nahm ein versiegeltes Kuvert vom Schreibtisch und reichte es Miss Marple.
»Ich glaube, es ist besser, Sie lesen es erst mal für sich durch. Lassen Sie sich Zeit, ich habe keine Eile.«
Miss Marple ließ sich einen Brieföffner geben, schlitzte das Kuvert auf, nahm den Briefbogen heraus und begann zu lesen. Sie las den Text zweimal durch, dann schaute sie Mr Broadribb ratlos an.
»Das ist nicht sehr aufschlussreich. Haben Sie nicht noch eine andere Nachricht für mich?«
Mr Broadribb schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, das ist alles, was ich habe. Ich sollte Ihnen diesen Brief aushändigen und die Höhe des Legats bekannt geben. Es handelt sich um zwanzigtausend Pfund, nach Abzug der Erbschaftssteuer.«
Miss Marple schaute ihn verständnislos an. Sie fand keine Worte. Broadribb sagte nichts, aber er beobachtete sie genau. Sie war überrascht, darüber bestand kein Zweifel. Das hatte sie offensichtlich nicht erwartet, und er war gespannt, was sie sagen würde.
Sie schaute ihn mit der Offenheit und der Strenge an, die ihn an eine seiner Tanten erinnerte, und sagte dann fast vorwurfsvoll: »Das ist sehr viel Geld. Ich muss gestehen, ich bin überrascht, sehr überrascht.« Dann nahm sie das Dokument wieder in die
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