Das Schicksal ist ein mieser Verräter (German Edition)
beleben, aber eines Tages stand ich so da und warf Freiwürfe – stand einfach auf der Foul-Linie in der Turnhalle und nahm mir die Bälle von einem Gestell. Und plötzlich wusste ich nicht mehr, warum ich da stand und kugelförmige Objekte durch ein ringförmiges Objekt warf. Auf einmal kam es mir wie die bescheuertste Sache der Welt vor.
Ich musste daran denken, wie Kleinkinder zylinderförmige Klötzchen durch runde Löcher steckten, wie sie es immer und immer wieder tun, monatelang, wenn sie das Leben erforschen, und wie Basketball im Grunde genau dasselbe ist, nur als sportlichere Variante. Und die ganze Zeit warf ich weiter meine Körbe. Ich habe achtzig hintereinander getroffen, meine beste Leistung aller Zeiten, aber je länger ich es tat, desto mehr kam ich mir wie ein Zweijähriger vor. Und dann musste ich aus irgendeinem Grund an Hürdenläufer denken. Geht’s dir gut?«
Ich hatte mich auf die Ecke seines ungemachten Betts gesetzt. Ich wollte ihn nicht anmachen oder so; aber langes Stehen erschöpfte mich einfach. Ich hatte schon oben im Wohnzimmer gestanden, und dann war da die Treppe, und jetzt stand ich wieder, das war ganz schön viel Stehen für mich, und ich wollte nicht in Ohnmacht fallen oder so. Was das Ohnmächtigwerden anging, war ich ein bisschen wie eine viktorianische Lady. »Ja, schon gut«, sagte ich. »Ich höre nur zu. Hürdenläufer?«
»Ja, Hürdenläufer. Ich weiß auch nicht, wieso. Ich habe daran gedacht, wie sie ihre Hürdenrennen laufen und über diese vollkommen willkürlichen Gegenstände springen, die man ihnen in den Weg gestellt hat. Und dann habe ich mich gefragt, ob Hürdenläufer je dachten: Ich wäre viel schneller, wenn die blöden Hürden nicht im Weg stünden.«
»Und das war vor deiner Diagnose?«, fragte ich.
»Na ja, das kam vielleicht dazu.« Er lächelte ein halbes Lächeln. »Der Tag der existenziell belasteten Freiwürfe war zufällig auch der letzte Tag meiner Zweibeinigkeit. Ich hatte ein Wochenende zwischen dem Tag, als sie die Amputation ansetzten, und der OP. Ein kleiner Einblick in das, was Isaac durchmacht.«
Ich nickte. Ich mochte Augustus Waters. Ich mochte ihn richtig, richtig gerne. Ich mochte die Art, wie er seine Geschichte immer bei jemand anderem enden ließ. Ich mochte seine Stimme. Ich mochte, dass er existenziell belastete Freiwürfe warf. Ich mochte, dass er eine Professur im Fachbereich Leicht-schiefes-Lächeln innehatte, bei gleichzeitiger Lehrtätigkeit im Fach Stimme-bei-der-sich-meine-Haut-mehr-wie-Haut-anfühlt. Und ich mochte, dass er zwei Namen hatte. Ich fand es immer gut, wenn Leute zwei Namen hatten, denn dann konnte man selbst entscheiden, wie man sie nannte: Gus oder Augustus? Ich, ich war immer nur Hazel, einwertig Hazel.
»Hast du Geschwister?«, fragte ich.
»Was?«, antwortete er, irgendwie abgelenkt.
»Weil du davon geredet hast, wie Kleinkinder spielen.«
»Ach ja, nein. Ich habe Neffen, von meinen Halbschwestern. Aber die sind viel älter als ich. Sie sind – DAD, WIE ALT SIND JULIE UND MARTHA?«
»Achtundzwanzig!«
»Die sind schon achtundzwanzig. Sie wohnen in Chicago. Beide mit irgendwelchen erfolgreichen Anwälten verheiratet. Oder Bankern oder so was. Ich hab’s vergessen. Hast du Geschwister?«
Ich schüttelte den Kopf. »Was ist deine Geschichte?«, fragte er dann und setzte sich mit Sicherheitsabstand neben mich aufs Bett.
»Die habe ich dir schon erzählt. Ich bekam die Diagnose, als ich …«
»Nein, nicht deine Krebsgeschichte. Deine Geschichte. Interessen, Hobbys, Leidenschaften, seltsame Fetische und so weiter.«
»Hm«, sagte ich.
»Du bist bestimmt keine von den Leuten, die eins mit ihrer Krankheit werden. Ich kenne zu viele davon. Echt deprimierend. Ich meine, im Krebsgeschäft geht es um Wachstum, oder? Und ständig gibt es feindliche Übernahmen bei Leuten. Aber das hast du bestimmt nicht zugelassen.«
Mir kam der Gedanke, dass vielleicht genau das passiert war. Dann überlegte ich, wie ich mich Augustus Waters am besten verkaufen sollte, mit spannenden Leidenschaften, und im Schweigen, das folgte, kam mir der Gedanke, dass ich einfach nicht interessant war. »Ich bin ziemlich unaufregend.«
»Das kann ich von der Hand weisen. Erzähl mir, was du gerne tust. Das Erste, was dir einfällt.«
»Hm. Lesen?«
»Was liest du?«
»Alles. Von Kitschromanen zu hochtrabender Literatur und Gedichten. Egal was.«
»Schreibst du auch Gedichte?«
»Nein. Ich schreibe nicht.«
»Siehst du!«
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