Grabmoosalm (German Edition)
Von Bayern, insbesondere von Oberbayern, schwärmen viele
und reden nur Gutes. Japaner, Texaner, Südkoreaner, Taiwaner, auch manche
Bürger der in Einzelstaaten zersplitterten früheren Sowjetunion lassen ihr Geld
hier. Sie loben das Bier und die knusprigen Haxn vom Schwein und die zarten von
den Deandln. Das sind meist Menschen, die noch nie einen Tag in der
Zentralschweiz, in der Steiermark, in Tirol oder Vorarlberg verbracht haben,
wo’s auch fast so schön ist.
Einverstanden. Man kann’s hier aushalten. Und es gibt auch Flecken,
die wirklich anziehend sind – Chiemsee, Neuschwanstein, Brünnstein, das
Rosenheimer Land zum Beispiel. Aber dann gibt es eben auch – wie im
richtigen Leben – gar grausliche Stellen auf der oberbayerischen
Erdoberfläche. Nur Kasachen würden dort hinfahren oder vielleicht noch
Nordäthiopier. Aber keiner der oben genannten Bayernfans.
Deshalb gibt es in dieser kargen Region weit und breit kein Tourismusbüro.
Wahrscheinlich hat man weltweit noch kaum von diesem Landstrich in Oberbayern
gehört.
Selbstverständlich trifft man auch hier Berge, Hügel, Dörfer und
Seen an. Nur sind die Berge und Hügel nicht frisch und bunt, abenteuerlich
gezackt und in Stein gehauen wie im übrigen Alpenland, sondern vegetieren
halbrund und in kränkelndem Grau vor sich hin. Die Wälder sind morsch und
braun, durchsetzt von umgefallenen und abgeknickten Bäumen. Nach den Stürmen und
der folgenden Sommerhitze der letzten Jahre ist der Borkenkäfer als strahlender
Sieger hervorgegangen.
Die wenigen Dörfer dort töten den Nerv jedes unfreiwilligen Besuchers,
und die zwei, drei Seen, die es gibt, bestehen zu acht Zehnteln aus Sumpf und
Moor.
Es gibt Eichhörnchen, die auf den Fang von Kröten und Schmetterlingen
aus sind, es wimmelt geradezu von flammendrot-nachtschwarz gefleckten Salamandern,
die sich selbst auffressen und daher zu den bedrohten Tierarten zählen, und man
hört immer wieder von grünäugigen Wölfen, die anderen Tieren das Leben schwer
machen oder es gar beenden.
Trotzdem leben in dieser abscheulichen Einöde Menschen. Es bleibt ihnen
nichts anderes über.
Beispielsweise auf der Grabmoosalm. Das ist jene Alm in
tausendzweihundertzwölf Metern Höhe, auf die man trifft, wenn man das
stacheldrahtumzäunte Gelände der Papierfabrik umgangen, den übel riechenden
Fluss überquert, das Schlangendickicht hinter sich gelassen hat und den
zerfurchten, schmierigen Pfad hinaufgestiegen ist, den die Waldbauern nach
ihren Holzfällerarbeiten hinterlassen haben. Meist wird die Grabmoosalm
umwabert von tief hängenden Wolken oder hoch stehendem Nebel, der sich mit dem
beißenden Qualm der Fabrik tief unten mischt. Das wiederum hat den Vorteil,
dass man die Wesen, die dort existieren, nicht so genau erkennt.
Alles wirkt ein bisserl geheimnisvoll, mysteriös.
Da hatten wir zum Beispiel die Annemirl. Ihr Gesicht glich der
Landschaft um sie herum – Berge, Hügel, Dörfer, Seen. Es war von den
Sorgen und dem Verdruss der Vergangenheit gezeichnet. Trotzdem muss man sagen,
dass sich hinter ihrer allzeit strengen Miene durchaus der Charakter einer
zärtlichen Mutter verbarg, die sie für ihre Tochter Resi zeitlebens gewesen
war.
Ein Merkmal, das muss betont werden, ragte aus dem Gesicht der
Annemirl hervor. Die Nase. Sie war so entwickelt wie in alten Zeiten beim
Herrschergeschlecht der Habsburger. Zuerst aus der Gegend zwischen den Augen
schräg und zielstrebig nach vorn schießend. Dann über einen krummen Rücken kühn
abfallend wie ein Wasserfall, der sich in eine Klamm ergießt, bis zur
Mundpartie, wo der untere, parallel zur Erdoberfläche waagrecht abstehende
Nasenteil sich wieder dem übrigen Gelände einordnet. Wie gesagt, wie bei den
Habsburgern. Womit nicht angedeutet werden soll, dass die Mosers von Königen
und Kaisern abstammten. Vermutlich wussten sie nicht einmal etwas mit dem
historischen Namen anzufangen.
Und dennoch: Die Vorfahren der Annemirl könnten durchaus einmal
einem Habsburger über den Weg gelaufen sein. Denn die Mosers bewirtschafteten
die Grabmoosalm seit Menschengedenken. Annemirl hatte sie vor Jahren von ihrer
Mutter übernommen. Von der Moserin, so wird der jeweils älteste Familienteil
genannt. Immer war es eine Frau, niemals ein Mann. Männer schienen in der
Hierarchie dieser Almbauern über die Jahrhunderte nichts zu suchen gehabt zu
haben. Nicht, dass die Moserinnen sich wie Einzeller selbst vermehrt hätten.
Dazu bedurfte es durchaus eines
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