Das Schlangental - Neal Carey 3
seine Arme um Harleys Hals schlang. Harley war so sanft und zärtlich mit dem Jungen, wie er es früher gewesen war, und sie zog sich in die Küche zurück, während Vater und Sohn einander wieder kennenlernten.
Eine Weile besuchte er ihn zu Hause, Anne war immer in Hörweite. Harley blieb ein paarmal zum Essen und ein- oder zweimal sogar den ganzen Abend, und sie guckten Videos von alten Western. Die glorreichen Sieben, Der schwarze Falke, Mein großer Freund Shane … Nach Die glorreichen Sieben erklärte sie sich erneut zu Besuchswochenenden bereit.
Das erste fand im Mai statt. Harley holte Cody an einem Freitag abend um sieben ab und sagte, sie würden das Wochenende bei ihm in Venice verbringen. Das war vor drei Monaten, und seitdem hatte sie ihren Sohn nicht mehr gesehen.
»In diesen drei Monaten«, fragte Neal, »haben Sie da was unternommen?«
»Harley sollte Cody am Sonntagabend gegen sieben zurückbringen. Ich schätze, gegen acht hab’ ich angefangen, bei ihm anzurufen. Keine Antwort. Gegen zehn bin ich rübergefahren und hab’ geklingelt. Keiner zu Hause, kein Licht, kein Fernsehen, keine Musik. Ich hab’ die Polizei angerufen, die mir gesagt hat, daß ich mich ans Sheriff s Departement wenden muß. Ich bin also zum Sheriff s Departement gegangen, und die haben mir gesagt, daß sie seine letzte gemeldete Adresse überprüfen werden, und das haben sie auch getan, und da war er nicht. Sie würden einen Haftbefehl für ihn ausstellen, aber sie könnten solche Fälle nicht mit Priorität behandeln, weil es kein ›echtes Kidnapping‹ sei. Ich habe um zwei Uhr morgens meinen Anwalt aus dem Bett geholt, und er hat gesagt, er würde sofort mit den Schriftsätzen anfangen. Wahrscheinlich ist er immer noch damit beschäftigt.
Aber wir können Harley nicht finden, um ihm die Schriftsätze zu übergeben. Wir haben Sozialstationen abgeklappert, Privatdetektive, ein paar Dutzend Polizeistationen und Sheriff s Departements. Dann hat mein Anwalt gesagt, er hätte eine neue Detektei gefunden, die auf Sorgerechtsfälle spezialisiert sei. Sie waren jedoch viel geschickter darin, Ausgaben zu erfinden, als darin, meinen Sohn aufzustöbern. Schließlich habe ich Ethan angerufen. Ich hatte gehört, daß er sich nicht – wie soll ich sagen? – durch die engen Begrenzungen des Gesetzes stören läßt.«
»Woher kennen Sie Mr. Kitteredge?« fragte Neal.
»Seine Bank hat das Geld für einige meiner Filme vorgestreckt«, entgegnete sie.
Alles klar, dachte Neal.
»Ich habe Gerüchte gehört, daß er seinen besten Kunden bestimmte weitere Dienstleistungen anbietet«, fuhr Anne fort. »In dieser Stadt sind Gerüchte viel wert, also hab’ ich auch dieses überprüft. Er hat mir gesagt, ich würde von jemandem hören. Keine zwanzig Minuten später hat Ihr Mr. Levine angerufen. Ich bin sicher, den Rest kennen Sie.«
Neal wollte ihr gerade sagen, daß sie da nicht so sicher sein sollte, als Graham unterbrach: »Ihr Anwalt sollte seine Anstrengungen aber auf keinen Fall einstellen, Ms. Kelley.«
»Bei seinem Stundensatz bin ich sicher, daß er nie auf diese Idee käme«, entgegnete Anne. »Und was geschieht jetzt?«
»Wir suchen nach Ihrem Sohn, und Sie nehmen Ihr elfdreißig-Date wahr«, entgegnete Neal und erhob sich.
»Ich liebe meinen kleinen Jungen, Mr. Carey.«
»Dessen bin ich mir sicher, Ms. Kelley.«
»Ich bin keine schlechte Mutter.«
»Das hat auch niemand gesagt.«
»Sie haben es gedacht.«
Neal trat hinüber ans Fenster und schaute hinaus auf den Platz vor dem Studio, wo die Gangster von 1920 in die Cafeteria marschierten, um ganz vorne in der Schlange zu stehen.
»Nein«, sagte er, »ich habe nur gedacht, daß sie daran gewöhnt sind, eine Story umgeschrieben zu bekommen, wenn sie Ihnen nicht gefällt. Aber diesmal ist es kein Film, sondern es geht um Ihren Sohn, und es ist auch keine Story, es ist die Wirklichkeit. Ich habe gedacht, wie link diese Sorgerechtsgeschichten sind, denn obwohl das Gesetz im Grunde auf Ihrer Seite steht, hat das nicht viel zu bedeuten. Es berechtigt Sie nur, Ihr Kind zu behalten, wenn Sie es je wiederbekommen. Und während die Gesetze Ihnen Handschellen anlegen, kann Ihr Mann machen, was er will. Und ich habe gedacht, wie frustriert, wütend und verängstigt Sie sein müssen.«
Anne trank den Rest ihrer Cola und zündete sich eine neue Zigarette an. Netter Versuch, aber trotzdem standen Tränen in ihren Augen. »Ich bin panisch«, sagte sie. »Ich weiß, Harley
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