Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
geschickt hatte.
Das war mein Schwager, der Gatte meiner Schwester Rosine, Johannes Landenberger. Er verstand es wunderbar, als Lehrer und Erzieher mit den Kindern umzugehen. Er
war mir ein wirklicher Freund und Bruder, und wir haben einander immer in die
Hände gearbeitet; zwischen uns beiden gab es keine Händel und Eifersüchteleien.
Der Arzt war sich bewußt, daß er bei allen seinen Verordnungen als Pädagoge
verfahren mußte, der Erzieher aber wollte stets im Sinne wahrer Heilkunst
handeln. So ergänzten wir uns vortrefflich.
Von Anfang an hatte ich gewußt,
daß in einer Anstalt wie der unsrigen dem Unterricht eine größere Bedeutung
zukomme als der ärztlichen Behandlung. Darum konnte ich meinem Schwager die
Leitung der Anstalt mehr und mehr überlassen. Er übernahm das Amt des
Hausvaters, während ich der ärztliche Vorstand blieb. Auf diese Weise konnte
ich mich wieder mehr meinen medizinischen Studien widmen, und als ich im Jahre
1860 meiner Familie zulieb nach Gmünd übersiedelte, legte ich die Leitung der
Anstalt ganz in seine Hand, in dem Bewußtsein, daß ich keinen besseren
Nachfolger hätte finden können.
Diese Winterbacher Jahre waren
mit allen ihren Erfolgen und Enttäuschungen die schönsten meines Lebens. Als
ich die Anstalt verließ, hatten wir dort 64 Kinder; 51 erhielten Unterricht, 13
waren reine Pfleglinge. Alle Mühe und Arbeit dieser 11 Jahre waren nicht
vergebens; Gott hatte unser Tun sichtbar gesegnet.«
Am 25. Januar 1892 ist Georg
Friedrich Müller, der schwäbische Idealist, 87jährig in Grunbach gestorben, wo
seine Schwestern eine kleine Privatirrenanstalt unterhielten. Der Vorstand der
Winterbacher Anstalt, die inzwischen längst nach Stetten übergesiedelt war,
legte an seinem Grab einen Kranz nieder. Er dankte dem Arzt und Menschenfreund,
der, seiner Zeit weit vorauseilend, die Anstalt für schwachsinnige Kinder
gegründet hatte, weil er sich dazu von seinem Herrn und Meister berufen wußte.
JOHANNES LANDENBERGER
Als an jenem trüben
Novembernachmittag des Jahres 1851 der große Anstaltstreck unter der Führung
des Arztes Georg Friedrich Müller vor dem Tor der neuen Heimat Halt machte,
stand unter dem vorausgeschickten Anstaltspersonal ein junger, schmächtiger
Mann zum Empfang bereit und winkte mit beiden Händen den Ankommenden seinen
Gruß zu. Kaum war der Doktor ausgestiegen, umarmte ihn der junge Mann mit
strahlendem Gesicht, rief ihm »Herzlich willkommen!« zu und wiederholte, mit
dem Finger deutend, was über dem Torbogen stand: »Der Vogel hat sein Haus
gefunden und die Schwalbe ihr Nest, da sie Junge hecken.«
Dann aber hielt er nicht etwa
eine lange Begrüßungsrede, sondern sagte ganz einfach: »Gerade noch zur rechten
Zeit sind wir mit den Bauarbeiten fertig geworden; den Schmutz, den die
Handwerker hinterließen, haben wir beseitigt, die Zimmer sind geputzt und
gefegt, es ist überall geheizt und gemütlich warm für euch alle, für alt und
jung.«
Sprach’s und hob ohne viele
Umstände eines der Kinder aus dem zunächst stehenden Wagen und trug es voran
ins Haus.
Dieser energische, vor Freude
strahlende junge Mann war Johannes Landenberger. Er war mit seiner Frau und
seinen fünf Kindern schon etliche Wochen vorher gekommen, um nach dem Rechten
zu sehen und alle Vorbereitungen zum Empfang zu treffen. Seine Frau Rosine
hatte ihm dabei geholfen, so gut sie eben konnte, denn ihr jüngstes Kind lag
noch im Tragkissen.
Kurz nach ihrer Hochzeit vor
neun Jahren war der junge Volksschullehrer aus Ebingen in seiner Geburtsund
Heimatstadt an das neugegründete Rettungshaus für verwahrloste Kinder gerufen
worden. Es war kein Zufall, daß man ihm, obwohl er erst 24 Jahre alt war,
dieses Amt übertrug, denn er stammte aus einem frommen Elternhaus und galt als
ein begabter junger Mann. Sein Vater, ein einfacher Handwerker, hatte ihn auf
seinen brennenden Wunsch hin Lehrer werden lassen. Die jungen, gleichaltrigen
Eheleute gaben sich mit ganzer Liebe ihrem neuen Amt hin. Aber bald zeigte
sich, daß Landenbergers Freude am Lehren und Unterrichten in der
Rettungsanstalt nicht so zur Geltung kam, wie er es sich gedacht hatte und wie
es seiner Begabung entsprochen hätte. So bewarb er sich fünf Jahre später um
eine Lehrerstelle in Bodelshausen bei Hechingen, gerade im Jahr 1848, als sein
Schwager mit seiner Familie Tübingen verließ, um in der Stille als Arzt dem
Reich Gottes zu dienen. Schon damals wäre Johannes am liebsten mit ihm gezogen.
Der
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