Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
und Schwachsinnigen.
Es war noch nicht lange her,
daß man diese unglücklichen Menschen wie Verbrecher behandelt und in Tollhäuser
gesteckt hatte, die den Zuchthäusern angegliedert waren. Erst zu Beginn des 19.
Jahrhunderts entstanden staatliche und private Heilanstalten für Geisteskranke.
Müller machte sich auf, sie zu besuchen und sich an Ort und Stelle
»vorbereitende Kenntnisse in der Irrenpflege« zu verschaffen.
Um die gleiche Zeit gründete in
Wildberg, Oberamt Calw, der Pfarrer Karl Georg Haldenwang eine
Rettungsanstalt für schwachsinnige Kinder. Sein Vater war Schulmeister und
Schultheiß in Simmozheim und hatte eine Schwester des Bierbrauers Müller zur
Frau.
Dieser vortreffliche Mann und
gute Hirte seiner Gemeinde hatte schon seit Jahren auf jede nur mögliche Weise
ganz im Geiste des elsässischen Pfarrers Oberlin versucht, die Armut, den Bettel
und die Verwahrlosung in seiner Schwarzwaldgemeinde zu bekämpfen und ihr nicht
bloß durch Predigten, sondern auch durch tatkräftige Hilfe den Weg zu Christus
zu bahnen. Auch ihm hatte Gott helle Augen und ein warmes Herz gegeben, daß er
die Not der Alten und Jungen sah und sich ihrer erbarmte.
Eines Tages beobachtete er bei
einer Schulprüfung, daß die vielen schwachsinnigen Kinder seiner Gemeinde in
der Schule entweder den Unterricht hemmten oder, wenn die Lehrer
begreiflicherweise sich eher den Begabten widmeten, der »Wohltat des
Unterrichts und der Bildung verlustig gingen, die doch auch ihnen kraft des
Gesetzes als künftigen Bürgern des Staates zugesichert waren.« Im Blick auf
ihre häusliche Erziehung aber stellte er fest, daß diese »gerade bei solchen
Kindern und besonders in den unteren Volksklassen in der Regel mehr schädlich
als förderlich einwirkt, ihre ohnedies schwachen Verstandes- und Gemütskräfte
durch Verhätschelung und ganz verkehrte Behandlung oder, was leider auch
vorkommt, durch gänzliche Vernachlässigung und fast viehische Verwahrlosung
vollends ganz abstumpft und den Geistesnerv, ja alles menschliche Leben,
geradezu ertötet«.
Dies bewog ihn, im Jahre 1838
eine Rettungsanstalt für schwachsinnige Kinder zu gründen. Es war die erste in
Deutschland!
Als er seinem Vetter Georg
Friedrich Müller in Tübingen den ersten Jahresbericht schickte, wurde dieser
davon tief bewegt. Er las darin, die Aufgabe der Anstalt sei, die Kinder so
weit zu führen, »daß sie, wenn auch später als gewöhnlich, ihr Glaubensbekenntnis
ablegen und für einen Beruf bestimmt werden können, und andererseits für ihre
leibliche Pflege die erforderliche Sorge zu tragen, ihre Körperkräfte
zweckmäßig zu üben und sie an Arbeit zu gewöhnen«.
Die ärztliche Versorgung wurde
vom Wildberger Arzt wahrgenommen, die Verantwortung trug ein Komitee »aus sehr
achtbaren Gelehrten und Beamten«, die Mittel wurden durch zahlreiche
Liebesgaben, darunter auch Spenden des Königs, aufgebracht. Ein Haus sei
gefunden, hieß es, die Schwester des Pfarrers und seine zwei Töchter hätten die
Pflege der Kinder übernommen, deren Zahl im Wachsen begriffen sei.
Müller nahm an der Entwicklung
der Anstalt, die zuletzt mit 34 Kindern belegt war, aus der Ferne lebhaften
Anteil. Aber der wackere Pfarrer hatte sich übernommen: 1845 mußte er aus
Gesundheitsrücksichten eine leichtere Pfarrstelle übernehmen. Zwei Jahre später
wurde die Anstalt geschlossen. Sie hatte ihren Vater verloren.
Inzwischen schlugen in Tübingen
die Wellen der Begeisterung für die neuen politischen Ideale immer höher, aber
auch die Unzufriedenheit wurde immer größer. Im Hungerjahr 1847 fehlte nicht
viel, und die Bevölkerung der unteren Stadt hätte die Kunstmühle im Ammertal
gestürmt. Der Bürgermeister mußte die Studenten zu Hilfe rufen, und sogar die
Theologen im Stift beteiligten sich an diesem Ordnungsdienst, verzichteten aber
gleichzeitig aus »Mitleid mit der Armut« für etliche Tage auf ihre Brotrationen
zugunsten der Hungrigen. Doch nachdem die Studentenschaft erst einmal bewaffnet
war, wollte sie auch für die Freiheit kämpfen, gründete ein Freikorps und einen
aus Studenten und Bürgern bestehenden Volksverein, »verfaßte Adressen an Polen
und Franzosen, trieb Volksverbrüderung und schwelgte in menschheitsbeglückenden
Träumen.«
Als komisches Zwischenspiel
erregte der berüchtigte Franzoseneinfall Ende März des Jahres 1848 auch die
Gemüter der Tübinger Studenten und Bürgerschaft. Es hieß, die Franzosen seien
über den Rhein vorgedrungen und
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