Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
hatten.
Endlich war es soweit. Am 1. Juni 1956 wurde der erste Spatenstich getan, und am 12. Mai 1957 konnte das
erste von den acht Pflegehäusern eingeweiht werden.
Während die Bauarbeiter sieben
Monate lang einen mühseligen Kampf mit Regen und unvorstellbarem Schmutz
führten und trotzdem unverdrossen an der Arbeit blieben, während beim Innenausbau
die eigenen Maurer, Schreiner, Schlosser, Linoleumleger und Maler fröhlich mit
Hand anlegten, entstanden in der Schule der Anstalt kunstvolle Gemälde von den
Rohbauten, dem großen Kranen, dem Zementsilo und den Baugerüsten. Während ein
Strom von Spenden und Darlehen für die Hangweide nach Stetten floß, steuerten
Mitarbeiter und Pfleglinge von ihren Ersparnissen ihre Bausteine bei, kamen
freiwillige Helfer des CVJM aus der Nachbarschaft und stiegen aufs Baugerüst,
beteten in der Anstalt viele Hände und Herzen zum Herrn der Ernte, daß er
Arbeiter in seine Ernte schicke! Denn wer sollte die 320 neuen Kranken pflegen
und erziehen?«
Während immer neue Anfragen
kamen, wann endlich die aufgenommen werden könnten, die schon seit Jahr und Tag
darauf warteten, mußte man in der Anstalt immer wieder Betten einschieben, um
wenigstens die dringendsten Gesuche bewilligen zu können. Neue Ärzte wurden
eingestellt, neue Mittel gegen Epilepsie auf Grund jahrzehntelanger Erfahrung
verabreicht, alle Maßnahmen für Unterrichtung, Erziehung und Ausbildung der
Geistesschwachen und besonders der Schwererziehbaren wurden besprochen und die
Pfleger und Pflegerinnen in immer neuen Lehrgängen für ihren schweren und
verantwortungsvollen Dienst geschult.
Und während alles dies in unermüdlicher
Arbeit geschah, saß unter den vielen Schulkindern der zehnjährige Klaus, dem es
niemand ansah, was für ein schweres Schicksal er von Kind auf gehabt hatte. Nur
der Lehrer, der ihn lieb hatte, wußte es; er konnte sich denken, warum er immer
so vor sich hin träumte und so erschrak, wenn er ihn ansprach. Er malte am
liebsten für sich, malte große Fabrikgebäude, wo hinter einem der vielen
Fenster der Vater saß und arbeitete. Die Mutter aber sah man auf der Straße
gehen, sie wollte dem Vater das Essen in die Fabrik bringen. Klaus aber kannte
weder Vater noch Mutter. Er konnte sie nur malen, wie er sie sich dachte, von
ihnen träumte, und wie es ihm vielleicht ein anderer von zu Hause erzählt
hatte. Und als der Lehrer dann für ihn eine »Patin« gewonnen hatte, die ihn zu
sich einlud, erzählte er von »daheim«, wo es ihm in der Schule gar nicht
gefallen habe und er den Lehrer gar nicht leiden mochte. Das waren freilich nur
Phantasien, denn er hatte nie eine andere Schule besucht als die in der
Anstalt. Was ging in dem Kinde vor? Worunter litt es? Es sehnte sich nach Vater
und Mutter, weil es sie nie besessen hatte! Es sehnte sich nach Liebe.
Vielleicht war für den begabten Jungen das Lernen gar nicht so wichtig,
vielleicht brauchte er nur eines: Liebe.
Und eben dies sollten sie, die
so vieles von frühester Jugend an entbehrten, draußen in der Hangweide finden.
Offen liegt das Dorf für die Hilflosen da, als wollte jedes einzelne der Häuser
sagen: Komm nur zu mir herein, bei mir hast du es gut. Nur für dich stehe ich
da mitten in der grünen Wiese, fernab der Stadt. Hier findest du alles, was du
brauchst: Vater, Mutter, Geschwister, Spielsachen, einen Tisch, an dem du
essen, ein Bett, in dem du schlafen darfst, einen Waschraum, wo du dich sauber
machen kannst, wenn du »gedreckelt« hast. Es wird dir dann auch so gehen, wie
es dem kleinen Jürgen gegangen ist.
Das war einer von denen, die in
der Schule einfach nichts mehr lernen wollten. Täglich bekam er einen Zorn, der
größer war als der kleine Bursche selbst. Keine Fensterscheibe war sicher vor
der Kraft seiner Fäuste. Er konnte so böse gucken, als wollte er das ganze
Schloß verschlucken. »Vor dem krieg ich Angst«, sagte einer seiner Kameraden.
Er durfte nicht länger bei seiner Gruppe bleiben, in die er sich nicht fügen
konnte. »Zur Strafe« wurde er auf die Hangweide versetzt. Und wiederum geschah
ein Wunder! Als ihn sein Lehrer dort besuchte, fand er ihn fröhlich lachend am
Spültisch in der Gruppenküche. »I fleißig bin, i gar net zornig bin«, rief er
schon von weitem. »I immer helfen tu«, erzählte er. Täglich wäscht er das
Geschirr seiner Gruppe ab und freut sich über das Lob seiner Hausmutter. Da
strahlt er über das ganze Gesicht.
Gerade wie die kleine Heidi,
die in der Schule immer Reißaus
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