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Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Titel: Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Teufel
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Schwager hatte ihm versprechen müssen, ihn, sobald es die Umstände
erlaubten, zu sich zu rufen. Wie freute sich Landenberger, als wenige Jahre
später die Nachricht kam, daß die wachsende Anstalt nicht nur eine neue
Unterkunft, sondern auch eine tüchtige Lehrkraft brauche, die die Erziehung und
den Unterricht der Kinder leite!
    Und nun war es soweit.
    Wie einen kostbaren Schatz half
er einen seiner künftigen Schutzbefohlenen nach dem andern in ihrem neuen Heim
bergen.
    Der erste Eindruck war
erschütternd genug:
    Da war ein blind geborener
neunjähriger Knabe, dessen Glieder durch »Gichter« (Krämpfe) in der ersten
Kindheit total verkrümmt und zusammengezogen waren, so daß er Tag und Nacht in
seinem Bettchen bleiben mußte. Er hörte zwar, konnte aber nicht sprechen und
nicht sagen, wo es ihm fehle.
    Da waren zwei Mädchen, auf ihre
Betten hingestreckt. Die eine war total blöde, begehrte weder Speise noch Trank,
stierte halbe Tage lang vor sich hin oder schrie ebenso lange, wenn sie von
ihren Krämpfen hin und her gezogen wurde; sie war jedem Wort gegenüber völlig
unempfänglich. Die andere war von Kindheit an halb gelähmt und verkrümmt von
Gichtern; sie jammerte erbarmungswürdig, sooft sie von ihren Krämpfen
heimgesucht wurde. Aber wie dankbar lächelte sie den Lehrer an, als er sie an
jenem Abend in ihr Bettchen legte! Erst später merkte er, daß sie auch
taubstumm war.
    Da war ein vierzehnjähriger
Knabe, der an einer merkwürdigen Sucht nach Papier litt. Schon zu Hause hatte
er jeden Papierstreifen, dessen er habhaft werden konnte, gesammelt und in der
Luft umhergeschlenkert, als ob es Peitschen wären. Er war so in dieses Spiel
vertieft, daß er darüber jedes Nahrungsmittel verschmähte. Er begnügte sich
damit, brummend und summend seine Papierfetzen in der Luft hin und her zu
bewegen und sie schließlich in den Mund zu stecken, um sie zu verschlingen.
    Gar nicht zu reden von denen,
die sich nur von den niedersten Trieben instinktmäßig leiten ließen, die kaum
ein menschliches Selbstbewußtsein zu besitzen schienen, für deren Pflege es
fast übermenschlicher Kräfte der Geduld und Ausdauer bedurfte.
    Es gehörte ein Berge
versetzender Glaube dazu, auch in ihnen noch das Ebenbild Gottes zu sehen. Es
war verdunkelt, verschüttet, es war nicht mehr zu erkennen, aber vielleicht
gelang es doch, etwas von der Schmutz- und Schuttschicht abzutragen, einen
Schimmer des göttlichen Goldgrundes wie bei einem übertünchten Gemälde freizulegen.
Wer hier mithelfen wollte, der mußte wissen, daß er an die äußerste Grenze des
Menschseins gestellt war, wo Ursprung und Wesen des Menschen sich ins Namenlose
verlieren und nichts mehr bleibt als ein undurchdringliches Dunkel, ein
unentwirrbares Rätsel, dessen Lösung nur der Liebe Christi gelingen konnte.
    Außer Landenberger waren noch
zwei jüngere Lehrer da, die schon die ersten Erfahrungen gesammelt hatten und
mit denen er sich in den Unterricht teilte. Sie bildeten drei Schulklassen:
einer bekam die Taubstummen und Schwerhörenden, der andere die Anfänger, die
den ursprünglichen Zustand der Trägheit und Stumpfheit noch nicht überwunden
hatten; Landenberger selbst übernahm zunächst die Fortgeschritteneren, die
hoffen ließen, daß sie einmal für einen einfachen, leichten Beruf tauglich
werden könnten.
    Diese Klasse bestand aus 21
»Kindern« im Alter von neun bis siebzehn Jahren, die er von Anfang an wieder in
zwei Abteilungen gliederte, um auf jedes einzelne persönlich eingehen zu
können. Die Kinder hatten ja, ehe sie in die Anstalt kamen, gleichsam träumend
in der Welt gelebt. Die Namen, Eigenschaften und der Gebrauch von vielen
alltäglichen Dingen waren ihnen ganz unbekannt geblieben, ihre Anschauungs- und
Beobachtungsgabe war noch kaum in ihnen geweckt. Man mußte ihnen also
Gegenstände und Bilder vor Augen stellen, damit sie durch Anschauung die Dinge
kennen, vergleichen und benennen lernten.
    Der erste Morgen, an dem
Landenberger vor seinen Kindern in der Schule stand, blieb ihm immer
unvergeßlich. Er sagte später, er habe nie wieder sein völliges Ungenügen vor
dieser Aufgabe so gespürt wie an diesem Morgen und sei doch von einem freudigen
Willen erfüllt gewesen, im Vertrauen auf Gottes Heiligen Geist das Werk zu
beginnen.
    Als er die an Alter, Verstand
und Kenntnissen so völlig verschiedenen Kinder vor sich sah, die unruhig auf
ihren Bänken hin und her rutschten, sich mit unartikulierten Lauten gegenseitig
beschimpften,

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