Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
vielleicht nur um des Platzes willen, um den sie sich stritten,
oder blöde lächelten, ohne von ihrem Lehrer überhaupt Notiz zu nehmen, die
aufstanden, herumliefen, zu heulen anfingen, noch ehe die Stunde angefangen
hatte — , da begann er ganz ruhig eine biblische Geschichte zu erzählen, auf
die er sich gründlich vorbereitet hatte. Es war die Geschichte von der Stillung
des Sturms auf dem Meer. Während er sie erzählte, war es ihm, als geschähe das
jetzt, wovon er erzählte, als legten sich hier vor seinen Augen die Wellen, als
schwiegen die Stürme, als wäre es der Herr selbst, der mit seiner Stimme Macht
über die Herzen der Kinder gewann.
Er knüpfte an ihre Fahrt von
Riet nach Winterbach an, er besprach mit ihnen, wie gut sie abgelaufen sei, und
erweckte ihre Neugier, als er sagte, daß es auch ganz anders hätte gehen
können. Da war er schon mitten drin in seiner Geschichte, aber freilich mußte
er jetzt zuerst von gutem und bösem Wetter, von Wind und Sturm, von See und
Meer, von Schiff und Schifffahrt reden. Er mußte Bilder an die Tafel malen oder
Abbild düngen zeigen. Erst dann konnte er dazu übergehen, den galiläischen See
mit seiner schönen Umgebung, seinem blauen Wasserspiegel, seinen plötzlichen
Windstößen den Kindern zu schildern. Ehe er sich’s versah, war die Stunde
vorbei, ohne daß er über die Vorbereitung und Einleitung hinausgekommen war.
Wie vieler Stunden bedurfte es
noch, bis wenigstens die Fähigsten den Gang der Geschichte erfaßten oder gar
nacherzählen konnten! Und doch — jedesmal waren sie aufs neue mit Feuereifer
dabei und atmeten erleichtert auf, wenn die Jünger mit ihrem Meister wieder
glücklich zu Hause waren. Erst ganz allmählich ging Landenberger dazu über, den
Kindern einen passenden Spruch oder Vers zu der Geschichte zu sagen, an die
Tafel zu schreiben, mit ihnen zu lernen, den Liedervers gar zu singen, so gut
es eben ging. Das war das Ergebnis wochenlanger Arbeit. Aber trotz allen
Hindernissen verlor er das Ziel nicht aus den Augen, daß die Kinder den
kennenlernen und liebgewinnen sollten, der auch sie in jeder Lage des Lebens
mutig und getrost machen konnte.
So fing er an, tastend,
suchend, beobachtend, völlig auf sich und seine Mitarbeiter angewiesen, da alle
Lehrbücher versagten, alle Weisheit der Menschen zuschanden wurde. Es war eine
Fahrt ins Ungewisse, nur mit der Bibel als Kompaß, mit Gottes Geist als dem
Wind, der das Schifflein vorantrieb, und mit dem Handwerkszeug pädagogischen
Wissens, das nur die Liebe handhaben konnte.
Schon vom Frühjahr 1852 an
wurde der Unterricht ins Freie verlegt, wo er nun im Schatten und Schutz einer
großen Gartenlaube stattfand. Alle drei Klassen konnten hier »in munterster
Tätigkeit« nebeneinander unterrichtet werden, ohne daß sie sich gegenseitig
störten. Dieser beständige Aufenthalt im Freien, wo es keinen Schulstaub und
keine Schulluft gab, trug nach Landenbergers Überzeugung nicht wenig zum
fröhlichen Gedeihen und zu den schönen Fortschritten der Kinder bei.
Die Fächer, die erteilt wurden,
waren die gleichen wie in jeder Volksschule; nur bildete die Biblische
Geschichte den festen Mittelpunkt, um den sich alles andere — mit Ausnahme des
Rechnens — gruppierte.
Die Biblische Geschichte war
für Landenberger das durch nichts zu ersetzende Mittel, das er brauchte, »um
die schlummernden Seelen der Kinder zu wecken, die Stumpfen zur Teilnähme zu
bringen, die Flüchtigen zu sammeln, die Leeren und Unwissenden mit Gedanken und
Wahrheit zu erfüllen, die Beschränkten aus ihrem engen Kreis herauszuholen, die
Kranken zu heilen, ja sie alle einem neuen, höheren Leben zugänglich zu machen,
so daß sich ihr Inneres von selbst dem Geiste Jesu Christi öffnete, wie die
Knospe dem Licht«. Was immer man von der gesinnungsbildenden Kraft anderer
Unterrichtsfächer sagen mochte, das verschwand für ihn vor der heiligen
Geschichte »wie das Kerzenlicht vor der aufgehenden Sonne«. Dabei hütete er
sich vor jedem mechanischen Auswendiglernen lassen, wie es damals noch meistens
üblich war, wobei man auf die Anschauung, die die biblischen Geschichten boten,
keine Rücksicht nahm. Von Anfang an ging er den umgekehrten Weg. Er erzählte
seinen Kindern die biblischen Geschichten so, daß sie sie miterleben konnten,
er wiederholte sie immer wieder, bis der eine oder andere sie nacherzählen
konnte, er gab die notwendigsten Sach- und Worterklärungen und hütete sich vor
allen moralischen Nutzanwendungen. Er
Weitere Kostenlose Bücher