Das Schloß der blauen Vögel
Nähe war – eine Vase mit Nelken – und schleuderte ihn gegen Dr. Keller. Er bückte sich schnell und entging so dem Wurf.
»Du Schuft!« sagte Angela mit tonloser Stimme. Und dann lauter, voll Verachtung: »Du erbärmliches Karriereschwein …«
»Angela!« Dr. Keller rannte um seinen Schreibtisch herum. Aber er erreichte Angela nicht mehr. Er sah sie über den langen Gang laufen, als flüchte sie vor etwas maßlos Entsetzlichem, als jage sie um ihr Leben den Flur entlang und die Treppe hinunter.
»Angela!« schrie er. Er erreichte die Treppe, als sie eine Etage tiefer um die Ecke bog. »Ich will doch nur die Klinik retten!« brüllte er. »Ich will die Klinik retten!«
Am Freitag um vier Uhr nachmittags erschien Leopold Wachsner frohgelaunt in der Kanzlei des Rechtsanwalts, der ihm seinen Judaslohn auszahlen sollte. Er schwenkte seinen Hut, nannte seinen Namen und erfuhr von der Sekretärin, daß der Herr Rechtsanwalt nicht im Büro sei. Aber ein Brief sei für ihn da.
»Das ist die Hauptsache«, sagte Poldi. »Wissen Sie, was da drin ist?« Er nahm den Brief. »Geld! So viel Geld, wie ich noch auf keinem Haufen gesehen habe. Passen Sie mal auf, Fräulein …«
Mit dem Zeigefinger schlitzte er das Kuvert auf. Aber statt Geldscheinen oder einem Scheck fiel nur ein Brief heraus. Er war kurz, und als Poldi ihn gelesen hatte, setzte er sich auf den Stuhl neben dem Schreibtisch, begann zu schwitzen und gleichzeitig zu frieren.
»Das ist doch nicht möglich«, stammelte er. »Das ist doch nicht wahr! Fräulein, hören Sie mal …«
»Ich weiß. Ich hab' ihn ja selbst nach Diktat geschrieben.«
»Das ist ja Betrug. Das ist … Fräulein …« Leopold Wachsner wischte sich über das Gesicht. Seine Hände zitterten. In seine Augen trat eine kindliche, erschütternde Angst. »Wenn das wahr ist … da kann ich mich ja aufhängen … da … da ist ja alles zu Ende …«
»Das müssen Sie mit dem Herrn Rechtsanwalt besprechen«, sagte die Sekretärin kühl. »Ich muß jetzt arbeiten …«
Leopold Wachsner verließ das Büro und fuhr mit der Straßenbahn nach Hause. Er wohnte in einem kleinen Hotel in Schwabing, das Zimmer war von unbekannten Wohltätern vorausbezahlt. In dem engen Zimmer setzte er sich nieder, kramte den Brief aus der Tasche und las ihn immer wieder durch.
›Ich habe Ihnen im Namen meiner Auftraggeber mitzuteilen, daß die Zuwendungen, die Ihnen zugesagt waren, leider nicht ausgezahlt werden können, da die von Ihnen erbrachten Gegenleistungen nicht den Erwartungen meiner Auftraggeber entsprachen.‹
»Das geht doch nicht«, sagte Leopold Wachsner. »Das geht doch nicht! Sie können mich doch jetzt nicht in den Hintern treten …«
Siebenmal rief er bei dem Rechtsanwalt an, zuletzt nachts um ein Uhr. Als er hörte, daß man die Polizei benachrichtigen würde, um ihn wegen Belästigung und Beleidigung abzuholen, hängte er weinend ein. Beim Nachtportier holte er sich eine Flasche Cognac auf Rechnung und lieh sich Briefpapier und einen Kugelschreiber. Dann schloß er sich ein, schrieb einen Brief, trank die Flasche Cognac aus, zerriß das Bettuch, befestigte es am Haken der Gardinenleiste, band sich das andere Ende um den Hals, stellte sich auf einen Stuhl und trat ihn unter sich weg. Das Umfallen, das leise Poltern hörte niemand im Haus, weil gerade in dieser Minute ein Lastzug ratternd durch die Straße fuhr.
Gegen Mittag brach man die Tür zu seinem Zimmer auf und fand Leopold Wachsner wie eine riesige Troddel an der Gardinenleiste hängen.
Auf dem Bett lag ein Brief. Mit großer Schrift war die Adresse geschrieben.
Herrn Professor Dr. Dorian. Privatklinik Hohenschwandt.
Der Polizist, der den Selbstmord später protokollierte, nahm den Brief an sich. Er sollte recht bald eine wichtige Rolle spielen.
12
Professor Dorian kehrte am Morgen aus dem ›Tierbau‹ zurück. Nachdem Angelas Bitten und Flehen nicht vermocht hatten, ihn aus der Verzweiflung, die ihn überfallen hatte, herauszureißen, gaben es auch Dr. Keller und Dr. Kamphusen auf, den Chef zu bitten, wenigstens zu einer Aussprache herauszukommen.
In diesen Nachtstunden kamen sich Keller und Kamphusen menschlich näher, als sie erwartet hatten. Vor allem der dicke, häßliche Kamphusen, den Keller immer als einen charakterlosen Streber angesehen hatte, als einen Nichtskönner, der nur durch Speichellecken Karriere zu machen versuchte, entpuppte sich als ein Mensch, der bisher unter seinen Minderwertigkeitskomplexen gelitten
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