Das Schloß der blauen Vögel
hatte und nun alle Fesseln seines gehemmten Wesens sprengte.
»Ich werde meinen Mund nicht halten!« rief er, als die Kommission aus München wieder abgefahren war. »Und wenn sie mir noch so drohen mit Ausschluß aus der Ärztekammer, mit Absprechung der Approbation … ich schweige nicht! Ich werde – wenn's nötig ist – wie ein Wanderprediger durch die Lande ziehen und allen erzählen, welche Intrigen hier den medizinischen Fortschritt abwürgen! Herr Keller, ich habe ein ansehnliches mütterliches Erbe. Es liegt unberührt auf der Bank. Eines Tages sollte es zur Einrichtung einer Praxis dienen, vielleicht auch als Grundstock einer kleinen Privatklinik für Gemütskranke. Ich werde dieses Erbe benutzen, um meine Aufklärungsfahrt zu finanzieren! Durch die ganze Welt werde ich reisen!«
»Es ist fraglich, ob Dorian so etwas nützen kann.« Dr. Keller sah auf die verschlossene Tür, hinter die sich Dorian zurückgezogen hatte. »Sie kennen unsere Gegner so gut wie ich. Medizinische Argumente wischen sie mit einer Handbewegung vom Tisch, so wie man eine Fliege verscheucht. Gegenbeweise? Warum? Diskussionen? Zeitverschwendung. Es genügt völlig, zu sagen: Die Experimente Dorians haben keinen wissenschaftlichen Wert – und alle Welt glaubt es! Sie werfen ihre großen Namen in die Waagschale. Alles ist nur ein Gewichtsproblem: Dorians Name gegen zehn andere große Namen … logisch, daß einer gegen zehn immer verliert. Warum sich die Mühe machen, die neuen, revolutionären Erkenntnisse überhaupt zu prüfen? Sie sind lästig … das genügt. Ein Dorian stört … also muß er weg! Die Kranken? O Gott, um sie geht es gar nicht. Denken Sie nur an die sogenannten Außenseiter in der Krebsbehandlung. Man würgt sie ab, man macht sie lächerlich, zerrt sie vor Gericht, nur weil ihre Methoden der von den Ordinarien geheiligten Schulmedizin zuwiderlaufen. Was nicht in das Schema paßt, was den Lehrbüchern widerspricht, wird rücksichtslos vernichtet. Ob die Kranken darunter leiden, ob vielleicht dadurch wirklich lebensrettende Therapien gar nicht zum Zug kommen, wen kümmert das? Die eigene Ansicht, die eigene Lehrmeinung ist maßgebend. Mein Lieber, es ist zum Kotzen in der Medizin!«
»Und das sollen wir einfach so hinnehmen? O nein! Ich reiße die Klappe auf wie ein mittelalterlicher Prediger!«
Dr. Keller sah Dr. Kamphusen dankbar an. In diesem Augenblick sprang zwischen beiden ein Funke über, der sie auf rätselhafte Weise zusammenschmolz. Sie spürten es und lächelten sich an.
»Tun Sie es nicht«, sagte Keller langsam. »Man wird es sofort ummünzen: Jetzt geht Dorian auf den Jahrmarkt! Der neue Doktor Eisenbarth. Und nichts tötet mehr als Lächerlichkeit.« Spontan reichte er Kamphusen die Hand. »Ich danke Ihnen, daß Sie dazu bereit sind.«
»Das ist doch selbstverständlich.« Kamphusen nahm die Hand an. Sein Druck war weich und schwammig, aber er konnte ja nichts dafür, daß ihn die Natur benachteiligt hatte. Er wußte es zu genau und litt still darunter. »Was jetzt werden soll, wissen Sie es, Herr Keller?«
»Ja. Hohenschwandt arbeitet weiter wie bisher. Man hat mir die kommissarische Leitung übertragen. In ein paar Tagen sieht alles anders aus. Ich habe das dumpfe Gefühl, daß unsere Gegner zu voreilig waren, zu sehr aufgeschreckt von den neuen Dingen, die alles Bisherige umstülpen! Ich weiß, daß Dorian einen großen Artikel in Amerika veröffentlicht; die Nummer der ›Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie‹ muß in den nächsten Tagen auf den Markt kommen. Was in diesem Forschungsbericht steht, kann man nicht wie einen Brotkrümel vom Tisch fegen.«
»Man wird einfach nicht darauf reagieren. Totschweigen war immer eine beliebte Waffe in der Medizin.«
»Bisher. Über das, was Dorian hier veröffentlicht, kann man nicht schweigen. Es rüttelt an den Grundfesten aller bisherigen Erkenntnisse über die Funktionen des Gehirns. Es wird zu einer Diskussion kommen, und es wird seine Rettung sein!«
So stand es in Hohenschwandt am Morgen, als Professor Dorian aus seinem ›Tierbau‹ kam.
Die Nacht hatte ihn völlig verwandelt. Er kehrte in die Klinik nicht als alter, gebrochener Mann zurück, sondern ganz im Gegenteil aufrecht, energiegeladen, voll Kampfeswillen. Angela, die ihm entgegeneilte und weinte, wies er fast betroffen ab.
»Was ist denn los?« fragte er und sah in die Runde. Dr. Keller, Dr. Kamphusen, Dr. Janson und die anderen Ärzte standen da, als habe ein Blitzschlag
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