Das schmutzige Spiel Kommissar
untersuchte, ob ihre Transparenz nicht künstlich sei. Wahrscheinlich lag sie in ihren obligaten Slacks auf der Couch und las eines von jenen modernen, gräßlichen Büchern, deren Autoren die Liebe einem Fieber gleichsetzen, das sie zwar nicht zu behandeln wissen, über das sie aber endlose und geradezu erschreckend offene Analysen abzugeben wagen.
Überhaupt schätzte die Gräfin die Angewohnheiten der Tochter nur wenig. Clarissa rauchte und trank wie ein Mann, sie verkehrte mit Künstlern und besuchte gemeinsam mit ihnen verräucherte Kellerlokale. Wenn sie sich über die Liebe und ihren Platz in der modernen Massengesellschaft ausließ, meinte die Gräfin vor Scham in den Boden versinken zu müssen.
Lady Clarkstone hatte sich redlich bemüht, den frivolen Jargon der Jugend nicht zu ernst zu nehmen, aber sie erhielt immer wieder einen Schock, wenn die Tochter mit allzu betontem Freimut eines jener Themen aufgriff, deren Inhalt die Gräfin aus Gründen des Taktes als Diskussionsstoff ablehnte. Auf dem Korridor wurden Schritte laut. An dem hellen, raschen Klicken erkannte die Gräfin, daß es Clarissa war. Trotz ihrer ungewöhnlichen Größe trug sie stets hochhackige Schuhe.
Clarissa trat ein und schloß die Tür hinter sich. Das Mädchen wirkte in dem Salon wie ein Anachronismus. Mit den engen, zartblauen Slacks und der weißen Bluse, mit dem kurzgeschnittenen honigfarbenen Haar und den roten lackierten Fingernägeln sah sie vor der Kulisse der altehrwürdigen Möbel seltsam unwirklich aus.
Während die Gräfin die Tochter betrachtete, fiel ihr ein, daß dieser zufällige Kontrast im allgemeinen von den meisten Modezeitungen ganz bewußt gesucht wurde: ihre Bilder zeigten schöne, zerbrechliche Mannequins vor Lokomotiven und Autos, vor Gittertoren und Häusern. Überall setzten raffinierte Modefotografen das Zarte vor das Gewaltige, die lebendige Jugend vor das steingewordene Alter.
„Hast du den Schuß gehört?" fragte Clarissa und kreuzte die Arme vor der Brust, so daß sie mit den Händen die bloßen Oberarme zu berühren vermochte. Sie schien zu frösteln. Erstaunt hob die Gräfin die Augenbrauen.
„Den Schuß?" fragte sie ratlos.
„Ja . . . vor genau einer Minute. Ich hörte es plötzlich knallen." Sie ging zum Kamin und streckte die Hände den Flammen entgegen. „In diesem alten Kasten werde ich verrückt", fügte sie hinzu. „Was für eine Nacht! Ich verstehe nicht, wie du es hier aushältst. Es ist, als sei man lebendig begraben!"
Sie hat recht, dachte die Gräfin flüchtig. Lebendig begraben. Das ist das richtige Wort. Das ganze Schloß ist nichts anderes als ein riesiges, höchst absonderliches Grabmal. .Hier ruhen die Clarkstones. In Ewigkeit. Amen'. Dann zwang sie sich, die melancholischen Gedanken fallenzulassen.
„Ich habe keinen Schuß gehört", erklärte sie. „Wahrscheinlich ist ein Ziegel vom Dach gefallen. Das passiert in letzter Zeit häufig. Es klingt wie ein Schuß, wenn so ein Ding auf dem Steinboden zerschellt. Vielleicht war es auch nur ein Fensterladen."
Clarissa nickte. Sie hatte sich rasch beruhigt. Plötzlich lachte sie und wandte den Kopf der Mutter zu.
„Stell dir vor", sagte sie, „hier käme plötzlich ein Einbrecher herein . . . irgendein Mann, der dich oder mich mit einer Pistole bedroht. Wäre das nicht köstlich?"
„Köstlich?" echote die Gräfin verblüfft.
„Sieh mich nicht so entsetzt an! Er wäre doch immerhin ein Mann, nicht wahr? Man könnte die Situation genießen . . . man könnte mit ihm sprechen und beweisen, daß man keine Furcht hat. Komisch . . . manchmal wünsche ich mir, daß so ein Mann kommt. Ein Ausgestoßener. Ein Mensch, der die Gesellschaft mißachtet, der die Gesetze haßt und nur seinen eigenen, dunklen Trieben lebt. Es ist so langweilig, so gräßlich langweilig, immer nur mit den wohlerzogenen Exemplaren der Spezies Menschen zusammen zu treffen."
„Ich kann nicht finden, daß deine Freunde, die langhaarigen Künstler, großen Wert auf Wohlerzogenheit legen."
Clarissa verschränkte wieder die Arme vor der Brust und blickte ins Feuer.
„Künstler!" sagte sie verächtlich. „Die tun doch nur modern! Das sind die wahren Spießer des zwanzigsten Jahrhunderts! Die gebärden sich revolutionär, weil sie etwas Besonderes zu sein wünschen. Sie malen und dichten nicht, weil sie Talent haben, oder weil sie die Welt zu verändern wünschen, sondern weil sie hoffen, sich mit diesem billigen Trick über die lieben Nächsten erheben zu
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