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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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Fell. Faina hielt die Falle gegen ihr Knie, löste den Bügel und warf die Pfote in den Wald.
    Was war das?
    Eine Marderpfote.
    Wo ist der Rest?
    Den hat ein Vielfraß gestohlen, sagte das Kind.
    Wie das?
    Faina deutete auf Spuren von Krallen im Schnee. Es wunderte Mabel, dass sie sie nicht schon vorher bemerkt hatte; jeder Abdruck war so groß wie ihre Handfläche. Die Spuren des Vielfraßes führten in immer größeren Sätzen um den Baum und verschwanden schließlich im Wald.
    Er hat den Marder aus meiner Falle gefressen, sagte Faina.
    Diese Erkenntnis schien sie nicht weiter zu erschüttern. Sie ging weiter, so leichten, raschen Schrittes wie eh und je. Mabel folgte ihr stumm, mit einem neuen Blick für Spuren, die Brust erfüllt vom Rhythmus ihres Herzschlags und ihres Atems. Und dann bemerkte sie, dass sie wieder beim Fluss waren und auf das Gehöft zuhielten.
    Warte doch – warum gehen wir schon wieder zurück? Du hast mir ja noch gar nicht dein Zuhause gezeigt.
    Das ist hier. Ich habe es dir gezeigt.
    Hier? Mabel wollte keinen Streit anfangen. Vielleicht schämte das Kind sich seiner Behausung. Vielleicht war der Platz, wo sie schlief und aß, kein schöner Anblick.
    Doch sie erkannte die Wahrheit: Die verschneiten Hänge, der offene Himmel, das Dunkel im Wald, wo ein Vielfraß am Lauf eines kleinen, toten Tieres nagte – das war Fainas Zuhause.
    Können wir hier haltmachen, nur einen Augenblick?, fragte Mabel.
    Lange hatte es sie nicht mehr so sehr zum Zeichnen gedrängt. Sie setzten sich auf eine Anhöhe mit Blick ins Tal. Mabel nahm Skizzenblock und Bleistift aus ihrem Bündel und begann zu zeichnen, ohne sich darum zu scheren, dass ihre Finger kalt und taub wurden. Faina hielt ihr den Marder hin, damit sie noch einmal seine Schnauze mit den Barthaaren und seine schräg stehenden Augen studieren konnte. Rasch zeichnete sie Fell und Krallen der braunen, dicken Pfoten, blätterte um und fertigte eine grobe Skizze der schneebeladenen Fichtenzweige über ihnen an; dann nahm sie sich die Berge vor, die aus dem Flusstal emporragten. Im schwindenden Licht versuchte sie, sich noch einmal den Baum mit dem angenagelten Vogelflügel und die Hermelinspuren im Schnee ins Gedächtnis zu rufen. Sie versuchte, sich an alles zu erinnern und es sich als ein Zuhause zu denken. Vielleicht konnte sie es hier auf diesem Blatt Papier zu Strichen und Bögen werden lassen und zu guter Letzt begreifen.

    Nun, da es ihr gezeigt worden war, sah sie es. Die Sonne war hinter ihnen versunken, und das Mädchen deutete über das Tal hinweg zu den Berghängen, die in frischem Purpurrosa erglühten. Von den Umrissen der Gipfel vor dem Himmel liefen Schneeranken herab, die ein grausamer Wind dorthin gepeitscht haben musste. Doch hier auf der Anhöhe ging kein Lüftchen. Die Farben waren fern, unfassbar, ungreifbar.
    Das bedeutet mein Name, sagte Faina, noch immer mit ausgestrecktem Zeigefinger.
    Berg?
    Nein. Dieses Licht. Papa hat mich nach der Farbe genannt, die der Schnee hat, wenn die Sonne sich wendet.
    Alpenglühen, flüsterte Mabel.
    Sie spürte Ehrfurcht wie beim Betreten einer Kathedrale – das Gefühl, ihr werde etwas Mächtiges und Tiefinnerliches gezeigt, in dessen Gegenwart man nur leise sprechen durfte, wenn überhaupt. Sie heftete den Blick auf die Farben und versuchte, sich einen Vater vorzustellen, der sein Kind nach solcher Schönheit benannte und es dann im Stich ließ.
    Wir sollten gehen, sagte Faina. Es wird bald Nacht.
    Das Kind führte Mabel zurück zum Gehöft, in die Wärme des Blockhauses, wo Jack wartete, mit Tee und Brot, das er in einem Schmortopf gebacken hatte.
    Und, sagte er. Was habt ihr gesehen?

Kapitel 33
Liebe Mabel!
Deine Briefe und Zeichnungen haben sich in unserem Haus zu einer großen Attraktion entwickelt. Jedes Mal, wenn eine Sendung von Dir eintrifft, veranstalten wir eine Abendgesellschaft und laden viele unserer engsten Freunde und Verwandten dazu ein. Dein Einverständnis vorausgesetzt, habe ich die Briefe dann allen vorgelesen, und Deine Zeichnungen sind von Hand zu Hand gegangen, begleitet von Ausrufen wie «Fabelhaft!» und «Wie schön!». Mehr als einmal bekam ich zu hören, Du seist dort an der Siedlungsgrenze auf Deine Weise eine ebensolche Pionierin wie ein italienischer Meister, der die menschliche Anatomie studiert. Deine Zeichnungen von dem Marder mit den gefletschten Zähnen und den krallenbewehrten Pfoten zählten gestern Abend zu den erklärten Lieblingen, desgleichen Deine

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