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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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Bergen begraben hatte und dabei erfuhr, dass er nur Stunden bevor sie die Schneefigur gebaut hatten, gestorben war und Faina als Waise zurückließ. In der Nacht war das Kind zum ersten Mal zu ihnen gekommen.
    «Wir wollten sie dazu bewegen, bei uns zu bleiben, aber sie weigert sich. Sie sagt, die Wildnis ist ihr Zuhause, und sie hat mich dorthin mitgenommen, und es ist wahr. Es ist ihr Zuhause. Sie läuft auf dem Schnee, ohne einzusinken. Und – ich weiß, es klingt unglaublich, Esther, aber sie kann eine Schneeflocke in der Hand halten, ohne dass sie schmilzt. Verstehst du nicht? Sie ist in der Nacht wiedergeboren worden … wiedergeboren aus Schnee und Leid und Liebe.»
    «Ich will ja nicht rechthaberisch sein, aber niemand sonst hat auch nur eine Spur von ihr gesehen. Weder ich noch Garrett, und der hat die ganzen Monate hier bei euch auf der Farm gearbeitet. Nicht das leiseste Anzeichen von einem Kind.»
    «Sie ist fortgegangen. Sie war den ganzen Sommer über weg. So wie ich’s dir gesagt habe.»
    «Und jetzt?»
    «Ist sie zurückgekommen. Mit dem Schnee.»
    Esther blätterte schweigend das Buch durch und betrachtete jede Illustration.
    «Du glaubst, ich bin verrückt, stimmt’s? Du hast es ja schon gesagt – die langen Winter und das kleine Blockhaus. Ein Fieber, hast du es nicht so genannt? Hüttenkoller?»
    Esther gab einen gedehnten Seufzer von sich und blätterte zurück zu dem ersten Bild von dem alten Ehepaar und dem Kind, halb Schnee, halb Mensch.
    «So stellst du es dir vor?», fragte sie.
    «Nein», sagte Mabel. «So phantastisch das alles klingen mag – ich weiß, dass das Kind existiert und wie eine Tochter für uns geworden ist. Aber ich kann nicht den kleinsten Beweis dafür liefern. Es gibt keinen Grund, warum du mir Glauben schenken solltest. Das ist mir klar.»
    Esther klappte das Buch zu, legte die gefalteten Hände darauf und sah Mabel in die Augen. «Ich muss schon sagen, ich hatte dich falsch eingeschätzt.»
    «Was meinst du damit?», fragte Mabel.
    «Anfangs habe ich dich für verzärtelt gehalten. Für eine Frau, die in einem einsamen Winter auf krause Gedanken kommt. Ich dachte, du würdest besser anderswohin passen, zu einer anderen Art von Leben.»
    Mabel spürte Zorn in ihrer Brust aufwallen.
    «Nun geh nicht gleich an die Decke», sagte Esther. «Lass mich ausreden, ich habe mir das nämlich gut überlegt. Ich habe mich getäuscht. Mittlerweile kenne ich dich recht gut, würde ich sagen. Zähle dich zu meinen liebsten Freunden. Und du bist kein Schwächling. Ein bisschen sehr auf Abstand bedacht, zu Beginn zumindest. Zu weichherzig, vermute ich. Und weiß Gott, du denkst zu viel nach. Aber du bist weder ein Schwachkopf noch ein Einfaltspinsel. Und wenn du sagst, dieses Kind gibt es wirklich, dann muss es bei Gott wohl so sein.»
    «Danke, Esther, aber ich weiß, dass du das nur aus Gutmütigkeit sagst. Als deine Freundin höre ich das gern. Dennoch ist es reine Gutmütigkeit.»
    «Ist dir je zu Ohren gekommen, dass ich meine Meinung geändert hätte, aus reiner Gutmütigkeit?», fragte Esther.
    Mabel lächelte schwach und drehte die Teetasse in ihren Händen langsam hin und her.
    «Wo bleiben die Freudensprünge? Ich glaube, so was ist noch nie da gewesen. Da sitze ich und räume ein, dass ich mich womöglich in einem Punkt getäuscht habe. Sag George ja nichts davon. Wahrscheinlich würde er vor Schreck tot umfallen.»
    «Es ist fast schon Frühling», sagte Mabel. «Hast du gesehen, wie der Schnee schmilzt? Bald bricht das Eis am Fluss.»
    «Ja, hab ich gesehen. Was hat das mit …»
    «Sie wird bald wieder fortgehen. Genau wie in dem Märchen. Faina wird uns im Frühling verlassen, und ich kann den Gedanken daran nicht ertragen. Wenn wir sie nun verlieren? Wenn sie nie mehr zu uns zurückkommt?»
    «Hmmm.» Esther nippte nachdenklich an ihrem Tee. Dann stellte sie die Tasse ab und musterte Mabel so eindringlich, als wollte sie jedes der folgenden Worte auf die Goldwaage legen.
    «Liebe, süße Mabel», sagte sie. «Wir wissen doch nie, was geschehen wird, oder? Das Leben wirft uns mal hierhin, mal dahin. Darin liegt das Abenteuer. Nicht zu wissen, wo man landet oder wie es einem ergehen wird. Es ist alles ein Rätsel, und wer anderes behauptet, belügt sich selbst. Sag mir, in welchen Momenten hast du dich am lebendigsten gefühlt?»

Kapitel 35
    Im März wurden die Tage spürbar länger. Jeden Morgen sah Jack die Sonne früher aufgehen und höher über die Berge steigen.

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