Das Schneemädchen (German Edition)
stoßen.»
«Sie ist sehr praktisch. Damit wird mir weniger kalt sein.»
Kapitel 32
Wo bist du gewesen, Kind?
Jetzt eben? Am Fluss. Da habe ich das hier gefunden.
Faina hielt den vom Wind ausgedörrten Schädel eines Lachses in der Hand. Mabel versuchte, ihn zu zeichnen, mal aus dem einen, mal aus dem anderen Winkel.
Nein. Nicht bloß eben jetzt. Die ganze Zeit. Den Sommer über. Wo bist du da hingegangen?
In die Berge.
Warum? Was gibt es da für dich?
Alles. Schnee und Wind. Die Karibus kommen. Und kleine Blumen und Beeren. Die wachsen sogar auf den Felsen, ganz nahe beim Schnee, dicht unter dem Himmel.
Du wirst uns wieder verlassen, nicht wahr? Im Frühjahr gehst du zurück in die Berge.
Das Mädchen nickte.
Und heute Abend, wenn du aufbrichst, wohin gehst du dann?
Nach Hause.
Was soll das für ein Zuhause sein, da draußen?
Ich zeige es dir.
Am nächsten schönen Tag holte das Kind Mabel ab, um sie in den Wald zu führen. Jack gab ihnen Proviant in einem Ranzen mit. Mabel solle sich keine Sorgen machen, sagte er dazu. Faina kennt sich aus. Sie bringt dich wohlbehalten zurück.
Sie folgte dem Mädchen vom Gehöft fort auf Trampelpfaden, die Mabel allein niemals gesehen oder als solche erkannt hätte – Fährten von Schneeschuhhasen unter Weidenzweigen, Wolfsspuren am Rand verharschter Schneewehen. Es war ein kalter, friedlicher Tag. Mabels Atem stieg empor und gefror auf ihren Wimpern und den Rändern der Fuchspelzmütze. Sie stolperte dahin, in Jacks Wollhose und den Schneeschuhen, die er ihr an die Füße gebunden hatte; Faina lief leichtfüßig und anmutig über den Schnee voran.
Sie ließen das Flusstal unter sich und stiegen himmelwärts bis zu einer Bergflanke.
Da, sagte das Mädchen.
Sie deutete auf den fächerförmigen Abdruck zweier kleiner Vogelflügel in der Schneefläche, vollkommen und ebenmäßig bis in die letzte Feder.
Was ist das?
Da ist ein Schneehuhn losgeflogen.
Und da?
Mabel zeigte zu einer Reihe kleiner Striche im Schnee.
Da ist ein Hermelin gelaufen.
Alles erschien scharf umrissen und glitzerte, als wäre die Welt funkelnagelneu, an ebenjenem Morgen aus einem Ei aus Eis geschlüpft. Weidenzweige waren mit Raureif überzuckert, Wasserfälle in Eis erstarrt und das verschneite Land hundertfach mit den Spuren wilder Tiere gesprenkelt: Rötelmäuse, Kojoten und Füchse, Luchse mit großen Pranken, Elche und tänzelnde Elstern.
Dann kamen sie an einen schaurigen Ort mit einer Gruppe hoher Fichten; dort schien die Luft wie erstorben, in den Schatten nistete die Kälte. An den Stamm eines mächtigen Baumes war ein Vogelflügel genagelt, ein Stück weißes Kaninchenfell an einen anderen, wie Hexentotems zum Anlocken vorbeischweifender Geister.
Das Kind hielt auf einen dritten Baum zu, wo ein brauner Fellstreifen sich krümmte. Er war lebendig.
Mabel holte tief Luft.
Marder, sagte das Mädchen.
Das Tier hing verdreht mit einer Vorderpfote in einer stählernen Falle, die an einer Stange festgemacht war. Seine kleinen schwarzen Augen waren feucht und glänzten wie Onyx. Sein Blick war starr. Aufmerksam.
Was hast du mit ihm vor?
Belustigt oder verstimmt – Mabel wurde aus Fainas Miene nicht schlau.
Ich werde ihn töten, sagte das Kind.
Mit bloßen Händen nahm sie das sich windende Ding und presste seine schmale Brust gegen den Baumstamm, bis das Tier erschlaffte.
Wie bringst du das fertig?
Ich quetsche sein Herz so fest, dass es nicht mehr schlagen kann.
Es war nicht die Antwort, auf die Mabel abgezielt hatte, aber sie wusste nicht, wie sie die Frage sonst hätte stellen sollen. Faina löste die Pfote aus der Falle.
Darf ich?
Mabel zog ihre Fäustlinge aus und nahm den toten Marder in die Hand. Er war warm und leicht, sein Fell weicher als Frauenhaar. Am Kopf roch er wie ein Hofkätzchen. Mabel musterte die schmalen Augenschlitze, die bösartigen kleinen Zähne.
Faina stellte die Falle wieder auf und steckte den Marder in ihr Bündel.
Später fanden sie einen toten Hasen in einer Würgeschlinge und noch später ein weißes Hermelin, das wie verhext mit offenen Augen steif gefroren in der Falle steckte. Beide wanderten in Fainas Bündel.
Der Pfad führte über einen gefrorenen Sumpf mit halb abgestorbenen, schiefen Schwarzfichten, ein Steilufer hinauf und zurück in ein Waldstück aus mächtigen Weißfichten und krummen, knorrigen Birken. Eine weitere Falle barg nur eine Tierpfote: schartiger Knochenrand, abgerissene Sehnen, am Stahl festgefrorenes, braunes
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