Das Schneemädchen (German Edition)
erst, als sie sich auf den Stuhl ihm gegenüber setzte. Ihr Haar war offen und zerrauft, ihr Gesicht voller Druckstellen vom Kopfkissen.
«Wieso bist du um die Zeit wach?», fragte sie.
Er blickte auf das Buch. «Merkwürdig, nicht wahr?»
«Was?», fragte sie gedämpft, als seien noch andere im Haus, die sie nicht wecken wollte.
«Das Kind, das wir aus Schnee gemacht haben. In der Nacht damals. Die Fäustlinge und der Schal. Dann Faina. Ihre blonden Haare. Und ihr Wesen.»
«Was sagst du da?»
Jack fing sich eben noch rechtzeitig.
«Ich schlafe wohl noch halb», sagte er, klappte das Buch zu und lächelte matt. «In meinem Kopf geht alles durcheinander.» Sie wirkte nicht überzeugt, stand aber auf, strich sich das Nachthemd glatt und ging zurück in die Schlafkammer.
Jack wartete, bis sie im Bett war, die Decken über sich gebreitet hatte und nach einer Weile tiefe, lange Atemzüge hören ließ. Dann schlug er das Buch wieder auf, diesmal bei einem Bild des Schneemädchens inmitten von Tieren des Waldes; Schneeflocken rieselten aus dem blauschwarzen Himmel über ihnen herab.
Er hatte zu viel gesagt und doch noch nicht alles. Mabel wusste nichts von den Schneeteufeln und wie Faina Schnee gleich Asche auf dem Grab ihres Vaters verstreut hatte. Und dass sie damals, als sie am Grab stand und der Schnee sie anwehte, wie aus kaltem Glas gemacht schien. Die Flocken schmolzen nicht auf ihren Wangen. Befeuchteten nicht ihre Wimpern. Ruhten dort wie Schnee auf Eis, bis ein Windhauch sie fortwehte.
Kapitel 31
«Der Junge hat dir etwas mitgebracht, Mabel.»
Jack schob die Haustür weiter auf, um Garrett mit seinem Bündel einzulassen; es war in eine Tierhaut gehüllt und mit einer rohledernen Schnur umwickelt. Der Junge trug es locker unter dem Arm, und es schien weder steif noch massig genug, um ein totes Tier zu enthalten. Dennoch, vielleicht hätte Jack nachfragen sollen, bevor er zuließ, dass Garrett es ins Haus brachte.
«Ah, guten Morgen. Herein mit dir, immer herein.» Mabel wischte sich die Hände an der Schürze ab und strich sich ein paar Strähnen hinters Ohr. «Hättest du gern etwas Warmes zu trinken?»
«Ja, danke.»
«Und, wie steht’s mit den Fallen?», fragte Jack.
«Ich stelle sie gerade alle auf. Aber Old Man Boyd hat gesagt, ich könnte seine Marderstrecke haben. Er will aufhören und nach San Francisco gehen.»
«Ach ja?»
«Ich glaube, er ist in einem Bach weiter nördlich auf ein bisschen Gold gestoßen und hat jetzt ausgesorgt. Er sagt, er will seine alten Knochen mal ordentlich von der Sonne bescheinen lassen.»
«Dann übernimmst du seine Strecke?»
«Noch nicht gleich. Aber bald. Er hat schon alle Pfähle aufgestellt. Und er verkauft mir seine besten Tellereisen. Er meint, in Kalifornien macht er dann nur noch Jagd auf schöne Frauen.»
Mabel nahm Kaffeebecher aus dem Schrank und schien nicht hinzuhören, trotzdem wurde der Junge mit einem Mal flammend rot. «Ich meine … so hat er es …»
«Ist sie lang, seine Fallenstrecke?», fragte Jack.
«Ich werde zwei Tage brauchen, um sie abzulaufen. Aber ich habe ein Zelt, in dem kann ich übernachten, wenn das Wetter nicht mitspielt.»
«Hast du keine Angst?», fragte Mabel von ihrem Platz am Fenster.
Der Junge blickte sie verwirrt an.
«Wenn du da draußen bist, ganz allein im Wald», sagte sie, «hast du da keine Angst?»
«Nö. Kann ich nicht behaupten.»
Mabel schwieg.
«Also, ich hab mich schon ein paarmal ordentlich erschreckt», sagte Garrett. «Aber das hatte immer einen Grund. Vorletzten Herbst hat sich ein Schwarzbär aufgeführt, als wollte er mich jagen. Ist mir den ganzen Weg bis nach Hause hinterher, aber ich hatte nie freie Schusslinie. So was ist mir noch nie passiert. Ich hab ihn angebrüllt, hab versucht, ihn zu verscheuchen, und dachte, er wäre weg. Und dann sehe ich wieder seinen Kopf durch das Dickicht. Den ganzen Weg bis nach Hause ging das so.»
«Aber Bären gehen doch normalerweise nicht auf Menschen los», sagte Jack mit einem raschen Blick zu Mabel.
«Ach, manchmal schon. Haben Sie das von dem Bergarbeiter unten bei Anchorage nicht gehört? Dem hat ein Grizzly das Gesicht weggefetzt.»
Jack sah den Jungen missbilligend an. Mabel stand steif und stumm am Fenster.
«Äh, na ja, klar, also ich meine, ungewöhnlich ist es trotzdem», stotterte der Junge. «Meistens macht der Bär, dass er wegkommt.»
«Aber fühlst du dich nicht einsam?» Mabel sah noch immer nicht zu ihnen
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