Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
Wird man verrückt, wehrt man sich anfangs vielleicht nach Kräften und wird hysterisch; ist man dann zu verrückt, um weiterzukämpfen, wird man ganz ruhig und schicksalsergeben. Auch darüber werde ich mit ihrem Arzt reden müssen, weil dieser Gedanke mich sonst zerreißt.«
»Worüber spricht sie denn? Gibt sie selbst eine Erklärung dafür, dass sie so viel ruhiger ist?«
Fred Marshalls Blick bohrt sich in Jacks Augen. »Nun, zum einen scheint Judy zu glauben, dass Ty noch lebt – und dass Sie der einzige Mensch sind, der ihn finden kann.«
»Also gut«, sagt Jack, der sich nicht dazu äußern möchte, bevor er mit Judy gesprochen hat. »Hat Judy eigentlich jemals von einem früheren Bekannten gesprochen – oder einem entfernten Verwandten, einem ehemaligen Freund -, der Ty entführt haben könnte?« Seine Hypothese klingt hier weniger überzeugend als in Henry Leydens ultrarationaler, ganz und gar bizarrer Küche; Fred Marshalls Antwort schwächt sie weiter.
»Nein, außer er heißt Scharlachroter König, Gorg oder
Abbalah. Ich kann nur sagen, dass Judy etwas zu sehen glaubt, aber obwohl es mir unverständlich ist, hoffe ich von ganzem Herzen, dass es tatsächlich existiert.«
Eine plötzliche Vision der Welt, in der Jack Sawyer die Brewers-Mütze eines Jungen gefunden hat, durchbohrt ihn wie eine Lanze mit Stahlspitze. »Und dort ist Tyler.«
»Würde ein Teil von mir das nicht für entfernt möglich halten, würde ich auf der Stelle durchdrehen«, sagt Fred. »Außer ich bin schon jetzt nicht mehr ganz bei Trost.«
»Okay, reden wir mit Ihrer Frau«, sagt Jack.
Von außen gleicht das French County Lutheran Hospital einem im 19. Jahrhundert erbauten Irrenhaus im Norden Englands: schmutzige Klinkermauern mit geschwärzten Strebepfeilern und Lanzettbogen, ein Spitzdach mit von Kreuzblumen gekrönten Fialen, dicke Türmchen, schmale, hohe Fenster und eine lange Fassade mit Pockennarben aus uraltem Schmutz. Das riesige Gebäude, das sich am Westrand von Arden in einem von einer Mauer umgebenen Park mit dichtem Eichenbestand erhebt – gotisch, aber ohne Erhabenheit -, wirkt wie eine Strafanstalt bar jeglichen Mitleids. Jack erwartet beinahe, gleich die schrille Orgelmusik aus einem Vincent-Price-Film zu hören.
Sie gehen durch eine schmale hölzerne Spitzbogentür und betreten eine beruhigend vertraute Eingangshalle. An einer zentralen Empfangstheke weist ein gelangweilter Uniformierter Besuchern den Weg zu den Aufzügen; Plüschtiere und kleine Blumenbuketts füllen das Schaufenster der Geschenkboutique; an willkürlich verteilten Tischen sitzen am Tropf hängende Patienten in Bademänteln mit ihren Angehörigen zusammen, während andere Patienten auf den an den Seitenwänden aufgereihten Stühlen hocken; in einer Ecke beraten sich zwei weiß bekittelte Ärzte. Hoch darüber verbreiten zwei staubige, reich verzierte Kronleuchter ihr sanftes ockergelbes Licht, das die prächtigen Lilien, die in hohen Vasen beiderseits des Eingangs der Geschenkboutique stehen, für einen Augenblick zu vergolden scheint.
»Wow, hier drinnen sieht’s weit besser aus«, sagt Jack.
»Meistenteils«, sagt Fred.
Sie treten an die Empfangstheke, und Fred sagt: »Station D.« Mit milde aufflackerndem Interesse gibt der Mann ihnen zwei rechteckige Kärtchen mit dem Stempelaufdruck BESUCHER und winkt sie dann durch. Der Aufzug kommt klappernd herunter und lässt sie in eine holzgetäfelte Kabine von der Grö ße einer Besenkammer eintreten. Fred Marshall drückt auf den Knopf mit der Nummer fünf, worauf der Aufzug mit ihnen nach oben rumpelt. Das gleiche sanfte, goldene Licht wie zuvor füllt die absurd winzige Kabine. Vor zehn Jahren hat ein bemerkenswert ähnlicher Aufzug, jedoch in einem Pariser Grandhotel, Jack und eine UCLA-Doktorandin der Kunstgeschichte namens Iliana Tedesco zweieinhalb Stunden lang gefangen gehalten, in deren Verlauf Ms. Tedesco ihm mitteilte, trotz ihrer persönlichen Dankbarkeit für etwas, was zumindest bis zu diesem Augenblick eine lohnende gemeinsame Reise gewesen sei, habe ihre Beziehung ihre Endstation erreicht, vielen Dank. Nachdem er darüber nachgedacht hat, beschließt Jack, Fred Marshall nicht mit dieser Mitteilung zu belästigen.
Der Aufzug ist manierlicher als sein französischer Cousin: Er hält zitternd, öffnet mit kaum wahrnehmbarem Widerstreben seine Schiebetür und entlässt Jack Sawyer und Fred Marshall in den fünften Stock, auf dem das angenehme Licht ein wenig dunkler zu
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