Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
stimmt’s? So merke ich jedes Mal, wenn wir hier halten und uns ein paar Minuten hinsetzen, dass meine Frau mehr weiß als ich und ich einfach darauf hören sollte, was sie sagt.«
Jack lächelt, setzt sich auf die Bank und wartet auf den Rest der Geschichte. Seit Fred Marshall ihn abgeholt hat, hat jener nur zwei, drei Sätzen gesprochen, um seine Dankbarkeit auszudrücken, aber es ist klar, dass er diesen Ort gewählt hat, um sich etwas von der Seele zu reden.
»Ich bin heute Morgen ins Krankenhaus rübergefahren, und sie … Nun, sie ist anders . Sieht man sie, redet man mit ihr, würde man sagen müssen, dass sie in viel besserer Verfassung ist als gestern. Obwohl sie sich weiter schreckliche Sorgen um Tyler macht, ist sie anders . Glauben Sie, dass das an den Medikamenten liegt? Ich weiß nicht mal, was sie ihr geben.«
»Können Sie ganz normal mit ihr reden?«
»Ab und zu, yeah. Zum Beispiel hat sie mir eine Geschichte erzählt, die gestern in der Zeitung gestanden hat – von einem kleinen Mädchen aus La Riviere, das bei einem landesweiten Rechtschreibwettbewerb beinahe den dritten Platz belegt hätte, aber an einem verrückten Wort gescheitert ist, das kein Mensch kennt. Popoplax oder so ähnlich.«
»Opopanax«, sagt Jack. Er klingt, als hätte er sich an einer Fischgräte verschluckt.
»Sie haben die Meldung auch gelesen? Interessant, dass euch beiden dasselbe Wort aufgefallen ist. Irgendwie hat es sie angeregt. Sie hat die Krankenschwestern nach der Bedeutung dieses Worts gefragt, worauf eine in ein paar Lexika nachgeschlagen hat. Die konnte es aber nicht finden.«
Jack hat das Wort in seinem Concise Oxford Dictionary gefunden; die buchstäbliche Bedeutung hatte sich aber als unwichtig erwiesen. »Das ist wahrscheinlich die Definition von Opopanax«, sagt Jack. »›1. Ein Wort, das nicht im Lexikon steht. 2. Ein schreckliches Geheimnis.‹«
Fred, der im Bereich des Aussichtspunkts nervös auf und ab gegangen ist, bleibt jetzt neben Jack stehen, der mit einem Blick nach oben feststellt, dass der andere über das weite Panorama hinausblickt. »Ha! Vielleicht ist das die Bedeutung.« Freds Blick bleibt auf die Landschaft gerichtet; er ist noch nicht ganz so weit, aber er macht Fortschritte. »Es war schön, zu sehen, dass sie sich für so was interessiert, für eine winzige Meldung im Herald …«
Fred wischt sich Tränen aus den Augen und macht einen Schritt in Richtung Horizont. Als er sich umdreht, sieht er Jack geradewegs ins Gesicht. »Äh, bevor Sie Judys Bekanntschaft machen, möchte ich Ihnen noch ein paar Dinge über sie erzählen. Das Dumme ist nur, dass ich nicht weiß, wie diese Dinge in Ihren Ohren klingen werden. Selbst für mich klingt manches … Ich weiß nicht.«
»Versuchen Sie’s einfach«, sagt Jack. »Okay«, sagt Fred, faltet krampfhaft die Hände und senkt den Kopf. Als er dann wieder aufsieht, wirkt sein Blick verwundbar wie der eines Säuglings. »Ach … ich weiß nicht, wie ich’s ausdrücken soll. Okay, ich sag’s einfach. Mit einem Teil meines Gehirns denke ich, dass Judy etwas weiß. Das möchte ich zumindest denken. Andererseits möchte ich keiner Selbsttäuschung erliegen, indem ich glaube, dass sie nicht mehr verrückt sein kann, nur weil es ihr wieder besser zu gehen scheint. Aber das möchte ich wirklich glauben. Und wie, Mann!«
»Sie glauben also, dass Judy etwas weiß.« Das durch Opopanax
hervorgerufene unheimliche Gefühl verschwindet angesichts dieser Bestätigung seiner Vermutung.
»Etwas, was ihr nicht einmal ganz klar zu sein scheint«, sagt Fred. »Wie ich Ihnen schon gesagt habe, sie hat gewusst, dass Ty verschwunden war, noch bevor ich’s ihr erzählt habe.«
Er wirft Jack einen gequälten Blick zu und tritt dann einige Schritte zur Seite, schlägt mit der linken Faust in die rechte Handfläche und starrt zu Boden. Eine weitere innere Barriere fällt offenbar vor seinem Bedürfnis, sein Dilemma zu erläutern.
»Okay, passen Sie auf. Folgendes müssen Sie über Judy wissen. Sie ist ein besonderer Mensch. Gut, viele Ehemänner würden sagen, dass ihre Frauen etwas Besonderes sind, aber Judy ist auf spezielle Weise besonders. Erstens ist sie irgendwie erstaunlich schön, aber davon rede ich gar nicht. Und sie ist unglaublich tapfer, aber das meine ich auch nicht. Man könnte glauben, sie würde mit irgendetwas in Verbindung stehen, was wir anderen nicht mal andeutungsweise begreifen können. Aber kann es so was geben? Wie verrückt ist das?
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