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Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus

Titel: Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stephen;Straub King
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»Aber Judy hat sich schon merkwürdig benommen, bevor …«
    »Da war’s nicht anders, fürchte ich. Sie brauchte Trost, und ihre Wahnvorstellungen – ihre illusionäre Welt – ist zutage getreten, weil diese Welt ihr genau den Trost gewährt hat, den sie brauchte. Das werden Sie doch heute Morgen auch gemerkt haben, Mr. Marshall. Hat Ihre Frau da nicht von Reisen in andere Welten gesprochen?«

    »Reisen in andere Welten?«, fragt Jack bestürzt.
    »Eine ziemlich typische schizophrene Vorstellung«, sagt Oberschwester Bond. »Über die Hälfte der Leute auf dieser Station haben ähnliche Fantasien.«
    »Sie glauben, dass meine Frau schizophren ist?«
    Oberschwester Bond blickt an Fred vorbei, um die Gesamtheit der Patienten, die in ihrer Obhut stehen, zu mustern. »Ich bin keine Psychiaterin, Mr. Marshall, aber ich habe über zwanzig lange Jahre hinweg Erfahrungen mit Geistesgestörten gesammelt. Auf Grund dieser Erfahrungen muss ich Ihnen leider sagen, dass sich bei Ihrer Frau meiner Ansicht nach die klassischen Symptome einer paranoiden Schizophrenie manifestieren. Ich wollte, ich könnte Ihnen etwas Erfreulicheres mitteilen.« Sie sieht wieder Fred Marshall an. »Die endgültige Diagnose stellt natürlich Dr. Spiegleman, und der kann auch alle Ihre Fragen beantworten, auch hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten und so weiter.«
    Das Lächeln, mit dem sie Jack bedenkt, scheint im Augenblick seiner Entstehung zu gefrieren. »Ich erzähle meinen neuen Besuchern immer, dass Angehörigen meist mehr unter der Situation leiden als die Patienten. Manche der Leute hier bei uns haben keinerlei Sorgen. Wirklich, man muss sie fast beneiden.«
    »Klar«, sagt Jack. »Wer täte das nicht?«
    »Dann gehen Sie schon«, sagt sie mit einem Anflug von Gereiztheit. »Viel Spaß bei Ihrem Besuch.«
    Einige der Patienten wenden sich ihnen zu, während sie langsam über den staubigen grauen Boden zur hintersten Bankreihe gehen; zahlreiche Augenpaare verfolgen ihren Weg. Neugier, Gleichgültigkeit, Verwirrung, Misstrauen und Freude, vereinzelt auch unpersönlicher Zorn zeigen sich auf den blassen Gesichtern. Jack hat den Eindruck, als bewegten alle Patienten dieser Station sich unmerklich auf sie zu.
    Ein schwammiger Mann mittleren Alters, der einen Bademantel trägt, hat angefangen, durch die Tischreihen zu hasten, als hätte er Angst, den Bus zur Arbeit zu verpassen. Ein Stück weiter steht eine hagere alte Frau mit langem schlohweißen Haar auf und starrt Jack mit flehendem Blick an. Ihre gefaltet
erhobenen Hände zittern heftig. Jack zwingt sich dazu, ihren Blick nicht zu erwidern. Als er an ihr vorbeigeht, flüstert sie halb singend: »Mein kleiner Schatz war hinter der Tür, aber ich hab’s nicht gewusst, und da war er in all dem Wasser .«
    »Hm«, sagt Fred. »Judy hat mir erzählt, dass der kleine Sohn dieser Frau in der Badewanne ertrunken ist.«
    Aus den Augenwinkeln heraus hat Jack beobachtet, wie der Wuschelhaarige im Bademantel mit aufgerissenem Mund auf sie zustürmt. Als Fred und er die Rückseite der Bank erreichen, an der Judy Marshall sitzt, hebt der Mann einen Finger, als wollte er dem Busfahrer ein Zeichen geben, auf ihn zu warten, und trottet dann vorwärts. Jack beobachtet, wie er herankommt; zum Teufel mit Oberschwester Bonds Ratschlag. Er wird nicht zulassen, dass dieser Irre über ihn herfällt, bestimmt nicht. Der erhobene Finger nähert sich seiner Nase bis auf eine Handspanne, und die trüben Augen des Mannes starren Jack forschend ins Gesicht. Die Augen weichen zurück; der Mund schnappt zu. Im nächsten Moment wirft der Mann sich herum und hastet mit wehendem Bademantel davon, den erhobenen Finger weiter auf der Suche nach seinem Ziel.
    Was war das?, fragt Jack sich. Der falsche Bus?
    Judy Marshall hat sich nicht bewegt. Sie muss den an ihr vorbeistürmenden Mann gehört haben, seinen keuchenden Atem, als er stehen geblieben ist, dann sein flatterndes Weiterhasten, aber ihr Rücken in dem lockeren grünen Gewand bleibt gerade, ihr Kopf verharrt unbeweglich in leicht erhobener Haltung. Sie scheint von allem, was sie umgibt, losgelöst zu sein. Wäre ihr Haar gewaschen, gebürstet und gekämmt, trüge sie Straßenkleidung und hätte einen Koffer neben sich stehen, sähe sie genau wie eine Frau aus, die auf einer Bahnhofsbank sitzt und auf die Abfahrtszeit ihres Zuges wartet.
     
    Schon bevor Jack das Gesicht von Judy Marshall sieht, bevor sie ein einziges Wort spricht, hat sie also diese Aura von

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