Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
mit dem Künstlerbedarf, führen drei verschlossene Metalltüren in eigene Welten. Das Gefühl, sich in einer Flugzeughalle zu befinden, weicht allmählich dem Eindruck einer gütigen, aber unbeugsamen Gefangenschaft.
Von den zwanzig bis dreißig Männern und Frauen, die in dem riesigen Raum verstreut sind, kommt leises Stimmengewirr. Nur sehr wenige dieser Männer und Frauen sprechen mit sichtbaren Begleitern. Sie schreiten im Kreis, stehen zur Bewegungslosigkeit erstarrt da, liegen in Säuglingshaltung auf den Matten; sie zählen etwas an den Fingern ab und kritzeln in ihre Notizbücher; sie zucken, gähnen, weinen, starren ins
Leere oder in ihr Inneres. Manche von ihnen tragen grüne Krankenhauskleidung, andere Zivilsachen aller Art: T-Shirts und Shorts, Trainingsanzüge, Jogginganzüge, gewöhnliche Hemden und lange Hosen, Sweatshirts und Jeans. Niemand trägt einen Gürtel, und an allen Schuhen fehlen die Schuhbänder. An einem runden Tisch sitzen zwei muskulöse Männer mit Bürstenhaarschnitten und in blendend weißen T-Shirts, die wie geduldige Wachhunde dreinsehen. Jack sucht den Raum nach jemandem ab, der Judy Marshall sein könnte, kann aber niemanden entdecken.
»Ich habe um Ihre Aufmerksamkeit gebeten, Mr. Sawyer.«
»Sorry«, sagt Jack. »Ich hatte nicht erwartet, dass die Station so groß ist.«
»Wir müssen so groß sein, Mr. Sawyer. Wir versorgen immerhin eine wachsende Bevölkerung.« Sie scheint auf die Anerkennung ihrer Bedeutsamkeit zu warten, und Jack nickt. »Also gut. Ich erkläre Ihnen jetzt einige Grundregeln. Halten Sie sich daran, gestaltet sich Ihr Besuch hier für uns alle so angenehm wie möglich. Also, starren Sie die Patienten nicht an und lassen Sie sich von dem, was sie sagen, nicht beunruhigen. Benehmen Sie sich nicht, als fänden Sie irgendetwas, was sie tun oder sagen, ungewöhnlich oder beängstigend. Seien Sie einfach höflich, dann lässt man Sie nach einiger Zeit in Ruhe. Bittet man Sie um Dinge, tun Sie innerhalb vernünftiger Grenzen das, was Sie für richtig halten. Aber geben Sie ihnen bitte kein Geld, keine scharfen Gegenstände oder Esswaren, die nicht von einem der Ärzte freigegeben sind – die Wirkung mancher Medikamente wird durch bestimmte Lebensmittel beeinträchtigt. Irgendwann wird vermutlich eine ältere Frau namens Estelle Packard auf Sie zukommen und Sie fragen, ob Sie ihr Vater sind. Antworten Sie, was Sie wollen, aber wenn Sie Nein sagen, wird sie das sehr enttäuschen. Wenn Sie Ja sagen, ist sie für heute glücklich. Noch Fragen, Mr. Sawyer?«
»Wo ist Judy Marshall?«
»Sie sitzt mit dem Rücken zu uns auf der Bank dort hinten. Sehen Sie sie, Mr. Marshall?«
»Ich hab sie gleich gesehen«, sagt Fred. »Übrigens, hat sich ihr Zustand seit heute Morgen verändert?«
»Nicht, dass ich wüsste. Dr. Spiegleman kommt in ungefähr einer halben Stunde zur Visite; vielleicht hat er ja Neuigkeiten für Sie. Soll ich Mr. Sawyer und Sie zu Ihrer Frau begleiten, oder möchten Sie lieber selbst hinübergehen?«
»Danke, wir kommen allein zurecht«, sagt Fred. »Wie lange dürfen wir bleiben?«
»Ich gebe Ihnen fünfzehn, maximal zwanzig Minuten. Judy befindet sich noch in der Beobachtungsphase, und ich möchte ihren Stresslevel möglichst niedrig halten. Sie wirkt im Augenblick recht friedlich, aber sie leidet an starkem Realitätsverlust und offen gesagt, an Wahnvorstellungen. Eine weiteres hysterisches Zwischenspiel würde mich also nicht sonderlich überraschen, und wir wollen die Beobachtungsphase nicht unnötig verlängern, indem wir ihre Medikation jetzt umstellen, nicht wahr? Achten Sie bitte darauf, Mr. Marshall, die Unterhaltung stressfrei, locker und positiv zu gestalten.«
»Sie glauben wirklich, dass sie an Wahnvorstellungen leidet?«
Oberschwester Bond lächelt mitleidig. »Unter Wahnvorstellungen leidet Ihre Frau vermutlich schon seit Jahren, Mr. Marshall. Oh, sie hat’s geschafft, sie zu verbergen, aber fixe Ideen, wie sie welche hat, entstehen nicht über Nacht, nein, nein. Solche Dinge brauchen Jahre, um sich heranzubilden, und in dieser ganzen Zeit kann der oder die Betreffende scheinbar normal funktionieren. Dann gibt irgendetwas den Anstoß dazu, dass die Psychose sich in voller Stärke manifestiert. In diesem Fall war das natürlich das Verschwinden Ihres Sohns. Übrigens möchte ich diese Gelegenheit wahrnehmen, Ihnen mein Beileid auszusprechen. Wie schrecklich für Sie und Ihre Frau.«
»Ja, das ist es«, sagt Fred Marshall.
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