Das Schweigen der Schwaene
eins von den Kindern? «
»Nein, es ist eine Frau.«
Statt etwas zu erwidern, wartete sie einfach ab.
»Nicholas hat sie hergebracht«, fügte er widerstrebend hinzu.
»Nicholas? « Sie richtete sich kerzengerade auf.
»Ich dachte mir, daß dich das interessieren würde«, stellte er ein wenig sauertöpfisch fest. »Aber das macht keinen Unterschied.
Du kannst mich nicht überreden, diesen Fall zu übernehmen, nur weil Nicholas es will. Der Schaden ist zu groß, als daß ich ihr Gesicht wieder genauso hinbekäme, wie es einmal war. Ich werde sie zu Samplin schicken.«
»Ich würde gar nicht erst versuchen, dich zu überreden. Ich bin Nicholas etwas schuldig, aber diese Schuld werde ich selbst begleichen.« Sie runzelte die Stirn. »Wer ist diese Frau? «
»Nell Calder. Sie war eins der Opfer des Kavinskimassakers.«
»Nein, wer ist sie für Nicholas? «
»Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein. Ich glaube, er kennt sie kaum.«
»Warum sollte ich eifersüchtig sein? «
Ihre Überraschung war echt, und Joel atmete erleichtert auf.
Gleichzeitig versuchte er, möglichst gleichgültig mit den Schultern zu zucken. »Ihr beide steht einander so nahe wie zwei Erbsen in einer Schote.«
»Er hat mir das Leben gerettet und mich zu dir gebracht.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Nicholas und ich wollen nichts voneinander als Freundschaft.«
»Nicholas tut nur selten etwas umsonst.«
»Warum sprichst du so über Nicholas? Du magst ihn doch.«
Ja, er mochte ihn. Und gleichzeitig war er rasend eifersüchtig auf den Hund. Mit einem Mal dachte er an eine Szene in Casablanca, in der Ingrid Bergmann wehmütig in Humphrey Bogarts Richtung sah, während Paul Henri nobel und langweilig im Hintergrund saß. Es war ihr egal gewesen, daß Henri ein heroischer Widerstandskämpfer war, die schwarzen Schafe waren schon immer die interessanteren.
»Du verstehst ihn nicht«, sagte Tania. »Er ist nicht so hart, wie er wirkt. Inzwischen steht er auf der anderen Seite.«
»Auf der anderen Seite? «
»Er hat ein rauhes Leben geführt. Es geschehen Dinge, die dich vernarben und verdrehen, bis du denkst, daß du nie wieder an irgendetwas glaubst, daß es keine Sünde mehr gibt, die du nicht begehen würdest, um zu überleben. Und dann gehst du über diesen Punkt hinaus.« Sie blickte auf ihre Kaffeetasse. »Und wirst wieder ein Mensch.«
Sie sprach nicht nur über Nicholas. Sie selbst hatte diese Hölle durchschritten und war auf der anderen Seite wieder aufgetaucht. Am liebsten hätte er die Hand nach ihr ausgestreckt, sie getröstet, ihr gesagt, daß er sie gern hatte und daß sie der wichtigste Mensch in seinem Leben war.
Stattdessen nahm er seine Kaffeetasse und nahm einen Schluck.
»Er ist gut«, log er.
Großartig, Joel. Nicholas rettet ihr das Leben, und du gratulierst ihr zu ihrem Kaffee.
Sie sah ihn mit einem strahlenden Lächeln an. »Das habe ich doch gesagt.«
»Du sagst mir immer alles mögliche.«
»Also, warum will Nicholas, daß du dieser Frau hilfst? «
Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, er denkt, daß er teilweise verantwortlich ist für den Überfall auf sie. Also bringt er sie zu mir, um seine Schuld zu begleichen. Aber darauf lasse ich mich nicht ein.«
»Ich glaube doch, daß du dich darauf einlassen wirst. Diese Frau tut dir leid.«
»Wie ich schon sagte, ich kann ihr nicht zurückgeben, was sie verloren hat.«
»Du kannst ihr Gesicht nicht wieder so herrichten, wie es einmal war«, sagte sie. »Aber du kannst ihr ein neues Gesicht geben, nicht wahr? «
»Ich dachte, du wolltest nicht versuchen, mich zu überreden.«
»Das tue ich auch nicht. Es ist allein deine Entscheidung. Aber da du es wahrscheinlich sowieso tun wirst, denke ich, daß du dich selbst herausfordern solltest, damit die Arbeit ein bißchen interessanter wird.« Sie setzte ein spöttisches Lächeln auf. »Hast du noch nie das Bedürfnis verspürt, etwas ganz Eigenes, ganz Neues zu schaffen? «
»Nein«, war seine tonlose Erwiderung. »Das wäre dann keine Schönheitsoperation, sondern es käme einem Märchen gleich.«
»Aber du brauchst Märchen, Joel. Niemand braucht Märchen mehr als du.« Sie stand auf und nahm ihm seine Kaffeetasse ab.
»Du hast diesen Kaffee gehaßt, nicht wahr? «
»Nein, obwohl ich...« Er begegnete ihrem Blick. »Ja.«
»Aber du hast ihn für mich getrunken.« Sie strich mit ihren Lippen über seine Stirn. »Dafür danke ich dir.«
Das Tablett in der Hand verließ sie die Bibliothek.
Ohne
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