Das Schweigen der Schwaene
Wunde herumgedreht. Doch Nell war derartige Spitzen zu gewöhnt, als daß sie Sally die Befriedigung einer Reaktion hätte zuteil werden lassen. »Ich fand sie sehr angenehm.« Mit diesen Worten wandte sie sich um und eilte zur Treppe. »Ich muß zu Jill zurück. Sie muß noch baden und essen.«
»Also wirklich, Nell, du solltest dir endlich ein Kindermädchen nehmen.«
»Ich kümmere mich gern um sie.«
»Aber sie steht euch im Weg. Ich habe gerade erst heute
Nachmittag mit Richard darüber gesprochen, und er ist derselben Meinung wie ich.«
Nell sah Sally reglos an. »Hat er das gesagt? «
»Natürlich, denn schließlich ist ihm klar, daß du, je höher er in der Firma aufsteigt, immer mehr Aufgaben haben wirst. Sobald wir wieder in Paris sind, werde ich die Agentur kontaktieren, die ich benutzt habe, als Jonathan noch ein kleiner Junge war.
Simone hat sich so gut um ihn gekümmert, daß es nie auch nur die geringsten Schwierigkeiten mit ihm gab.«
Und nun war Jonathan ein unangenehmer, rebellischer Teenager, der so selten sie möglich aus dem Internat in Massachusetts ins Haus seiner Eltern kam. »Danke, aber soviel habe ich nicht zu tun. Vielleicht, wenn sie etwas älter ist.«
»Wenn sich Kavinski überreden läßt, uns seine
Auslandsinvestitionen anzuvertrauen, dann wird Richard für das Management zuständig sein. Man wird erwarten, daß du auf seinen Reisen an seiner Seite bist. Ich denke, er hat ganz recht, wenn er ein Kindermädchen will, ehe es unbedingt erforderlich wird.« Sie wandte sich ab und ging in Richtung des Ballsaals davon.
Sally tat so, als wäre die Beschäftigung eines Kindermädchens bereits beschlossene Sache, dachte Nell, und Verzweiflung wallte in ihr auf. Sie brächte es nicht über sich, ihre Tochter einer dieser reservierten Frauen auszuliefern, denen sie mit ihren Schützlingen im Park begegnet war. Jill gehörte zu ihr. Wie konnte Richard auch nur darüber nachdenken, ihr das fortzunehmen, was ihr auf der Welt das Wichtigste war?
Nein, er dachte bestimmt nicht darüber nach. Jill war alles für sie. Sie täte alles, was er von ihr verlangte, aber er konnte unmöglich fordern, daß...
»Laß dich von der alten Ziege bloß nicht ins Bockshorn jagen.
Sie will doch nur sehen, wie du dich krümmst.« Nadine Fallon kam die Treppe herab. »Sie stürzt sich immer auf die
Schwächeren. Das ist nun einmal ihre Natur.«
»Pst.« Nell blickte über ihre Schulter, aber Sally war nicht mehr zu sehen.
Nadine setzte ein Grinsen auf. »Willst du, daß ich ihr in deinem Namen ins Gesicht spucke? «
»Ja.« Nell blickte mit gerümpfter Nase in die Richtung, in die die Gastgeberin verschwunden war. »Aber irgendwie wird sie herausfinden, daß du in meinem Auftrag gehandelt hast, und dann wäre Richard wütend auf mich.«
Nadines Grinsen legte sich. »Dann laß ihn ruhig ein bißchen wütend sein. Er muß wissen, daß sie dir an Gemeinheit haushoch überlegen ist, also sollte er derjenige sein, der dem Barrakuda ins Auge spuckt.«
»Du verstehst mich nicht.«
»Nein.« Eingehüllt in eine Wolke aus Opiumparfüm, Karl-Lagerfeld-Chiffon und rotem Haar, schwebte die schöne, exotische Nadine an Nell vorbei. »Ich habe bereits vor langer Zeit zu Hause in Brooklyn gelernt, daß man zerquetscht wird, wenn man sich nicht zu wehren versteht.«
Nadine würde gewiß niemals zerquetscht, dachte Nell. Sie hatte sich aus der Siebten Straße auf die Laufstege der berühmtesten Pariser Designer gekämpft, und immer noch hatte sie ihren alten bodenständigen Humor und ihre alte Dreistigkeit. Sie wurde überall eingeladen, und Nell lief ihr in letzter Zeit immer häufiger über den Weg. Richard nannte sie die
›Designerschaufensterpuppe‹, aber Nell freute sich jedesmal, sie zu sehen.
Nadine blickte über ihre Schulter zurück. »Du siehst großartig aus. Hast du ein paar Pfunde weniger? «
»Vielleicht.« Nell wußte, daß ihr Aussehen alles andere als großartig war. Sie war noch genauso plump wie vor einem Monat, als sie Nadine zum letzten Mal begegnet war, ihre Hose
war zerknittert, und seit dem Vormittag hatte sie noch nicht einmal zum Kämmen Zeit gehabt. Nadine versuchte lediglich, sie zu trösten, nachdem sie von Sally Brenden auf so boshafte Art kritisiert worden war. Warum nicht? Eine Frau mit Kleidergröße sechs konnte es sich leisten, einer Frau mit Kleidergröße zwölf gegenüber freundlich zu sein. Dieser Gedanke erfüllte sie mit Scham. Freundlichkeit hatte kein Mißtrauen,
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