Das Schweigen des Glücks
zu sprechen.
»Sie haben meinen Sohn, ja?«
Sie wusste, wie die Antwort lauten würde, wie sie lauten müsste, aber seltsamerweise kam sie nicht. Stattdessen schien er besonders viel Zeit zu brauchen, um sich ihre Worte zu übersetzen, so wie Kyle auch. Er verzog ein wenig den Mund, fast träge, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein… ich bin gerade angekommen… Ihr Sohn?«
Erst da – während sie ihn ansah und ihr schreckliche Bilder durch den Kopf schossen – verspürte sie erstmals Angst. Wie eine Welle stürzte sie auf sie ein und Denise fühlte, wie sie im Innern zusammenbrach, wie damals, als sie vom Tod ihrer Mutter erfuhr…
Ein neuer Blitz zuckte auf, Donner folgte unmittelbar. Der Regen strömte vom Himmel und der Mann wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Mein Sohn saß hinten im Auto! Haben Sie ihn gesehen?« Die Worte kamen deutlich heraus, nachdrücklich genug, um den Mann am Fenster bestürzt zu machen und ihre letzten betäubten Sinne zu wecken.
»Ich weiß nicht -«
In dem plötzlichen Wolkenbruch hatte er nicht klar verstanden, was sie ihm sagen wollte.
Denise versuchte aus dem Auto zu steigen, aber der Sicherheitsgurt um ihre Mitte hielt sie fest. Sie öffnete die Schnalle, ohne den Schmerz in ihrem Handgelenk und dem Ellbogen überhaupt zu beachten. Der Mann trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als Denise die Tür aufdrückte. Sie musste sich mit der Schulter dagegenstemmen – die Tür war von dem Aufprall verklemmt. Ihre Knie waren geschwollen, weil sie mit ihnen gegen das Armaturenbrett geschlagen war, und beim Aufstehen hätte sie beinahe das Gleichgewicht verloren.
»Ich glaube, Sie sollten sich besser nicht bewegen.«
Sie hielt sich am Wagen fest und beachtete den Mann gar nicht, sondern ging um das Auto herum auf die andere Seite, wo Kyle gesessen hatte.
Nein, nein, bitte nein…
»Kyle!«
Fassungslos beugte sie sich vor. Sie suchte den Fahrzeugboden ab, sah erneut zum Sitz, als könnte Kyle wie durch ein Wunder plötzlich wieder da sitzen. Das Blut schoss ihr in den Kopf und brachte einen stechenden Schmerz mit sich, den sie ignorierte.
Wo bist du? Kyle…
»Junge Frau… «
Der Mann von der Feuerwehr folgte ihr um den Wagen, anscheinend verunsichert, weil er nicht wusste, was er tun sollte oder was vor sich ging und warum diese blutüberströmte Frau plötzlich so erregt war.
Sie ließ ihn nicht weitersprechen, sondern packte ihn am Arm und ihr Blick bohrte sich in seine Augen.
»Haben Sie ihn nicht gesehen? Einen kleinen Jungen… braunes Haar?«
In den Worten schwang Panik. »Er war mit mir im Auto!«
»Nein, ich -«
»Sie müssen mir suchen helfen! Er ist erst vier!«
Sie schwang herum und wäre bei der plötzlichen Bewegung beinahe gestürzt. Sie hielt sich wieder am Auto fest. Am Rande ihres Blickfeldes wurde es schwarz, doch mit großer Willensanstrengung verdrängte sie das Schwindelgefühl. Der Schrei brach aus ihr heraus, obwohl sich in ihrem Kopf alles drehte.
»KYLE!«
Das reine Entsetzen.
Sie konzentrierte sich… machte ein Auge zu, um deutlich zu sehen… es wurde klarer. Das Unwetter tobte um sie herum. Die Bäume in weniger als sechs Metern Entfernung waren schwer auszumachen durch den Regen. Es lag alles in absoluter Dunkelheit… nur der Pfad zur Straße war sichtbar.
Oh Gott.
Die Straße…
Sie spürte, wie ihre Füße auf dem matschigen Untergrund rutschten, sie hörte, wie sie in kurzen, hastigen Zügen atmete, als sie auf die Straße zustolperte. Einmal fiel sie hin, stand wieder auf und ging weiter. Endlich begriff der Mann, lief hinter ihr her, holte sie ein, bevor sie die Straße erreichte. Sein Blick überflog die unmittelbare Umgebung.
»Ich sehe ihn nicht… «
»KYLE!«
Sie schrie, so laut sie konnte, und betete innerlich dabei. Obwohl die Laute von dem Unwetter fast verschluckt wurden, rüttelten sie Taylor auf.
Sie liefen in entgegengesetzte Richtungen und riefen beide Kyles Namen, zwischendurch blieben sie stehen, um zu lauschen. Aber der Regen war ohrenbetäubend. Nach ein paar Minuten lief Taylor zu seinem Wagen zurück und rief über Funk die Feuerwehr.
Ihre Stimmen – die von Denise und die von Taylor waren die einzigen menschlichen Laute in dem Sumpfland. Der Regen war so laut, dass sie einander nicht hören konnten, und erst recht würde kein Kind sie hören, aber sie machten trotzdem weiter. Denise rief mit schriller Stimme – der Schrei einer verzweifelten Mutter. Taylor schlug einen Bogen,
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