Das Schweigen des Glücks
er rief Kyles Namen immer wieder und lief an der Straße auf und ab; die Angst hatte sich von Denise auf ihn übertragen. Endlich trafen zwei weitere Feuerwehrleute ein und brachten Stablampen mit. Bei dem Anblick von Denise mit ihrem blutverklebten Haar und den Blutspritzern auf dem Hemd schrak der ältere einen Moment lang zurück und versuchte dann – vergeblich – sie zu beruhigen.
»Sie müssen mir helfen und meinen kleinen Jungen suchen!«, schluchzte Denise.
Verstärkung wurde angefordert, mehr Männer trafen innerhalb weniger Minuten ein. Inzwischen suchten sechs Leute.
Das Unwetter wütete unvermindert weiter. Blitze, Donner… heftige böige Winde, gegen die sich die Suchenden mit aller Macht stemmten.
Taylor war es, der Kyles Decke fand, im Sumpfland, ungefähr fünfzig Meter von der Unfallstelle entfernt. Sie hatte sich im Gestrüpp, das dort den Boden bedeckte, verfangen.
»Ist das seine?«, fragte er.
Denise fing an zu weinen, als er ihr die Decke gab. Aber auch nachdem sie eine halbe Stunde gesucht hatten, war Kyle immer noch nicht gefunden.
Kapitel 4
S ie verstand das nicht. Gerade eben hatte er fest auf dem Rücksitz des Autos geschlafen und dann, plötzlich, war er verschwunden. Einfach so. Keine Warnung, nur die jähe Entscheidung, das Lenkrad herumzureißen, und nichts war mehr wie vorher. Sollte das Wesentliche des Lebens etwa darin liegen?
Sie saß hinten im Krankenwagen, die Türen standen offen. Und während diese Gedanken ihr im Kopf herumrasten, warf das Blaulicht des Polizeiautos seinen Schein in regelmäßigen kreisförmigen Schwenks über die Straße. Ein halbes Dutzend anderer Wagen stand kreuz und quer am Straßenrand und eine Gruppe von Männern in gelben Regenmänteln besprach, was zu tun sei. Obwohl es deutlich war, dass sie schon zusammengearbeitet hatten, konnte Denise nicht erkennen, wer die Leitung hatte. Sie hörte auch nicht, was sie sagten, denn ihre Worte wurden vom Brausen des Sturms übertönt. Der Regen kam mit einer solchen Wucht, dass man an das Rattern eines Güterzugs erinnert wurde.
Ihr war kalt und immer noch schwindlig und sie konnte sich nur ein paar Sekunden lang auf etwas konzentrieren. Ihr Gleichgewichtssinn war gestört – dreimal war sie gefallen, als sie Kyle suchte – und ihre Kleider waren durchweicht und schmutzig und klebten ihr am Körper. Als der Krankenwagen kam, zwang man sie zur Ruhe. Man hatte ihr eine Wolldecke umgelegt und eine Tasse Kaffee neben sie gestellt. Sie konnte davon nicht trinken – sie konnte so gut wie gar nichts tun. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Sicht war verschwommen. Ihre erstarrten Gliedmaßen schienen einer anderen zu gehören. Der Sanitäter – kein Arzt – vermutete eine Gehirnerschütterung und wollte sie umgehend ins Krankenhaus bringen. Sie weigerte sich hartnäckig. Sie würde erst mitkommen, wenn Kyle gefunden war. Er könne noch zehn Minuten warten, dann müsse er fahren. Am Kopf habe sie eine schwere Platzwunde, die trotz des Verbands blutete. Sie würde ohnmächtig werden, warnte er sie, wenn sie noch länger warteten. Sie komme nicht mit, wiederholte Denise.
Noch mehr Leute waren eingetroffen. Ein weiterer Krankenwagen, ein Polizist von den State Troopers, der das Funkgerät abhörte, noch drei Freiwillige von der Feuerwehr, ein Lastwagenfahrer, der den Unfall gesehen und angehalten hatte – alle kamen innerhalb weniger Minuten. Sie standen in einem lockeren Kreis, umgeben von den Autos, deren Scheinwerfer die Stelle erleuchteten. Der Mann, der sie gefunden hatte – Taylor? – stand mit dem Rücken zu ihr. Sie vermutete, dass er den anderen erklärte, was er wusste – was nicht viel war, außer dass er die Stelle zeigen konnte, wo er die Decke gefunden hatte. Kurz darauf drehte er sich um und blickte mit verschlossenem Gesicht zu ihr herüber. Der Polizist von den State Troopers, ein gedrungener Mann mit Glatze, nickte in ihre Richtung. Nachdem er den anderen bedeutet hatte stehen zu bleiben, kamen Taylor und er auf den Krankenwagen zu. Die Uniform – die ihr früher immer Vertrauen eingeflößt hatte – verfehlte jetzt jede Wirkung auf sie. Es waren Männer, einfach nur Männer, nichts weiter. Sie unterdrückte einen Würgereiz.
Sie hielt Kyles verschmutzte Decke auf dem Schoß und knetete sie mit den Händen, drückte sie zu einem Knäuel zusammen und strich sie wieder glatt. Der Krankenwagen schützte sie vor dem Regen, aber bei dem starken Wind fror sie fortwährend. Seit man ihr
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