Das Schweigen des Glücks
Denise konnte seine Augen sehen, zwei gelbe Murmeln, die in der Dunkelheit leuchteten. Sie würde mit ihm zusammenprallen. Denise hörte ihren eigenen Schrei, als sie das Steuerrad herumriss;die Vorderreifen rutschten erst und griffen dann doch. Das Auto schlitterte diagonal über die Fahrbahn und verpasste das Reh um dreißig Zentimeter. Das Reh löste sich aus seiner Erstarrung – zu spät, es spielte keine Rolle mehr – und sprang unversehrt und ohne einen Blick zurück davon.
Aber das Ausweichmanöver war zu viel für das Auto gewesen. Denise spürte, wie die Reifen von der Fahrbahn abhoben und mit voller Wucht wieder aufprallten. Die alten Stoßdämpfer stöhnten und krachten – ein zerbrochenes Trampolin. Die Zypressen standen keine hundert Meter von der Straße entfernt. Sie drehte heftig am Steuerrad, aber der Wagen fuhr weiter geradeaus, als hätte sie gar nichts gemacht. Ihre Augen wurden groß und sie atmete laut ein. Es kam ihr vor, als würde alles in Zeitlupe ablaufen, dann bei normaler Geschwindigkeit, dann wieder in Zeitlupe. Das Ende, das wurde ihr blitzschnell klar, stand schon fest, doch diese Erkenntnis dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. In dem Moment prallte sie gegen einen Baum; sie hörte das Bersten von Metall und das Splittern von Glas, als der Frontteil des Wagens auf sie zukrachte. Weil ihr Sitzgurt nur um ihre Hüften geschnallt war und nicht über ihre Schulter, prallte ihr Kopf hart auf das Steuerrad. Ein scharfer, bohrender Schmerz auf ihrer Stirn…
Dann nichts.
Kapitel 3
» H allo, junge Frau, alles in Ordnung?«
Bei dem Klang der fremden Stimme kam die Welt langsam wieder zurück, vage, als würde man in einem trüben Tümpel an die Oberfläche treiben. Denise spürte keinen Schmerz, aber auf ihrer Zunge war der salzigbittere Geschmack von Blut. Sie wusste noch nicht, was geschehen war, und hob automatisch die Hand an die Stirn, während sie gleichzeitig mit aller Macht die Augen zu öffnen versuchte.
»Bewegen Sie sich nicht… ich rufe einen Krankenwagen…«
Die Worte drangen kaum zu ihr; sie waren ohne Bedeutung für sie. Alles war verschwommen, mal mehr, mal weniger, auch die Geräusche. Langsam, intuitiv drehte sie den Kopf zu der schattenhaften Gestalt, die sie aus dem Augenwinkel wahrnahm.
Ein Mann… dunkle Haare… gelber Regenmantel… wandte sich ab…
Das Seitenfenster war zersplittert und sie spürte den Regen, der ins Wageninnere peitschte. In der Dunkelheit war ein seltsames Zischen zu hören – Dampf, der aus dem Kühler entwich. Langsam konnte sie wieder sehen, zunächst das, was direkt vor ihr war: Glasscherben auf ihrem Schoß, auf ihrer Hose… Blut am Steuerrad vor ihr…
So
viel Blut…
Nichts passte zusammen… ihr Verstand tastete sich durch die fremden Bilder, eins nach dem anderen…
Sie schloss die Augen und spürte zum ersten Mal Schmerz… machte sie wieder auf. Zwang sich nachzudenken. Das Steuerrad… das Auto… sie war im Auto… draußen war es dunkel…
»Oh Gott!«
Plötzlich stürzte alles auf sie ein: die Kurve… das Reh… das unkontrollierbare Schlingern. Sie drehte sich in ihrem Sitz um. Sie blinzelte durch das Blut in ihren Augen und richtete den Blick auf den Rücksitz – Kyle war nicht im Auto. Sein Sicherheitsgurt war geöffnet, ebenso die Tür auf seiner Seite.
Kyle?
Durch das Fenster rief sie zu der Gestalt, die sie aufgeweckt hatte… wenn da überhaupt eine Gestalt war. Sie wusste nicht genau, ob sie sich das eingebildet hatte.
Aber er war da, er drehte sich um. Denise blinzelte… er kam auf sie zu. Ein Stöhnen kam über ihre Lippen.
Später erinnerte sie sich daran, dass sie sonderbarerweise nicht gleich von Anfang an Angst gehabt hatte. Sie war sich sicher, dass Kyle nichts zugestoßen sein konnte; etwas anderes kam ihr gar nicht in den Sinn. Er war angeschnallt gewesen – das wusste sie ganz genau – und hinten im Wagen war nichts beschädigt. Die hintere Seitentür stand offen… sogar in ihrem benommenen Zustand war sie überzeugt, dass der Mensch – wer immer er war – Kyle aus dem Wagen geholfen hatte. Jetzt stand die Gestalt am Fenster.
»Hören Sie, versuchen Sie nicht zu sprechen. Sie sehen ganz schön schlimm aus. Ich heiße Taylor McAden und bin von der Feuerwehr. Ich habe ein Funkgerät im Auto, damit rufe ich Hilfe für Sie.«
Sie rollte den Kopf herum und fixierte ihn mit verschwommenem Blick. Mit größter Mühe konzentrierte sie sich und versuchte, ihre Worte so klar wie möglich
Weitere Kostenlose Bücher