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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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und was für ein Gefühl   …
    Ein Kribbeln bis ins Mark ist das gewesen, ein Stechen wie von tausend Zitterrochen, ein Beißen und Jucken von innen her, eines, gegen das man nicht ankratzen kann: Der Lemming hat sich auf dem Rasen hin- und hergewälzt und kurze, spitze Schreie ausgestoßen – schon bald ist vom Affenhaus her die Replik der Makaken erschallt   …
    Doch nun hat das Einschlafen, Absterben, Aufwachen endlich ein Ende.
    «Versenkt», meint Pokorny noch einmal. Er dreht den Kopf ein Stück und grinst den Lemming an. In seinem blutverschmierten Mund klafft eine Lücke – der linke Eckzahn: Er ist weggebrochen, nach innen gestülpt, hängt gerade noch an einem dünnen Faden Zahnfleisch. Pokorny konzentriert sich, spitzt die Lippen, spuckt den Zahn in seine Hand und steckt ihn ein. Seine klammen Kleider dampfen noch ein wenig, wie ein tiefgekühltes Schnitzel, wenn man es aus dem Gefrierfach nimmt. Immerhin: Der verloschene Leuchtturm in seinem Gesicht, die Nase nämlich, hat inzwischen wieder Farbe angenommen.
    «Danke, Poldi   … Danke für die Entbindung   …»
    «Bedank dich nicht bei mir», murmelt der Lemming. «Bedank dich beim Weihnachtsmann   …»
     
    Diesmal ist es der Lemming, der hinter dem Steuer sitzt. Im Schritttempo lenkt er den Wagen den Hügel hinab. DanebenPokorny, den nassen Akkordeonkoffer zwischen den Beinen. Sie haben ihn nach kurzer, aber reiflicher Überlegung aus dem Gehege geholt, oder besser: Der Lemming hat ihn geholt. Die Polizisten werden schon genügend Rätsel zu lösen haben: Ein nackter Kunststudent, der sich im Pinguinbecken des Schönbrunner Zoos das Leben nimmt, wird ihre Logik über die Maßen beanspruchen, wird ihre grauen Zellen bis zu jenem unausweichlichen Punkt zum Glühen bringen, an dem sie mit einem lapidaren «Scheiß drauf, durch’draht is er halt   …» die Akte schließen. Es ist gewissermaßen ein Gebot der Menschlichkeit, den Beamten nicht auch noch den Fund eines seltsamen Koffers zuzumuten, der nichts anderes enthält als einen Pflasterstein   …
    «So eine Scheiße   … Ausgerechnet der Bär   …» Pokorny hält inne, holt ruckartig Luft und niest.
    «Gesundheit.»
    «Danke   … Weißt du, Poldi, ich denk mir grad   … Man braucht wahrscheinlich eine übermenschliche Moral, um die Grenzen der Unmoral zu erforschen   …»
    «Wie meinst du das?»
    «Ganz einfach: Du musst ein Feuer löschen können, bevor du damit spielst. Vor allem das Feuer in dir. Und selbst dann ist es noch ein Hasardspiel, die Büchse der Pandora zu öffnen, nur um hineinzuspucken   … Sie waren halt noch jung, die vier. Jung und   … ungefestigt, wenn du so willst. Und deshalb   … Deshalb hätten’s die anderen genauso gut sein können   …»
    «Ja. Das hat der Putzer auch gesagt   … Er hat   …»
    Der Lemming verstummt. Das Hochgefühl, Pokorny mit knapper Not dem Tod entrissen zu haben, wird nun von den ersten düsteren Bildern getrübt. Noch sind es wirre Gedankenfetzen, die durch seine aufgewühlten Sinne wirbeln wie entwurzelte Bäume durch einen Hurrikan: Putzers selbstgefälliger Auftritt im Pinguinhaus, Putzers Anflug von Mitgefühl, stets aufs Neue kaschiert mit brutaler Entschlossenheit.Putzers Finte schließlich, Putzers Zorn   … Und Putzers verlorener Blick, als sich sein Wunschtraum zum Albtraum verwandelt hat. Die Pinguine, die seinen leblosen Körper noch eine Weile umkreist haben, um dann aus dem Wasser zu schnellen und sich – wie ein Gerichtstribunal nach der Urteilsverkündung – in Reih und Glied zurückzuziehen   … Und schließlich der Schatten, der Retter. Der ominöse Weihnachtsmann   …
    «Ein Virus», meint Pokorny jetzt und reibt sich die Nase. «Sie ist wie ein Virus, die Habgier   … Früher oder später kriegt sie uns alle   …» Er beugt sich rasch zur Seite und niest abermals.
    «Gesundheit   … Mag sein, du hast Recht, Pepi   … Keine Arche   …»
    «…   fährt ewig dahin   …», nimmt Pokorny dem Lemming das Wort aus dem Mund. «Und am Ende tanzt die Welt dann wieder ums Goldene Kalb, jedes Mal wieder, Sintflut hin oder her   …»
    «Außer heute. Außer dem Bären   …»
    «Ja. Außer dem Bären   …»
    «Und jetzt?», fragt der Lemming nach einer Weile.
    «Nix jetzt. Gar nix. Ich mach meinen Nachtdienst weiter wie gehabt. In einer Stunde geh ich auf die nächste Runde, find die Wasserleich und ruf den Stropek an   … Ja, siehst du, bevor ich’s vergess: Den Haupteingang

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