Das Schweigen des Lemming
muss ich noch zusperren …»
«Und die Hintertür aufbrechen: Der Putzer hat keinen Schlüssel gehabt …»
Pokorny grunzt zustimmend.
«Derweil bist du schon auf dem Weg zum Kunsthistorischen», spricht er dann weiter. «Bringst unser goldenes Kalb in seinen ärarischen Schoß zurück und fahrst nach Haus, in die Servitengasse …»
«Nach Ottakring», murmelt der Lemming. «Ich fahr heut nach Ottakring …»
Pokorny sieht ihn fragend von der Seite an. Richtet den Blick dann wieder nach vorne und schmunzelt.
«Deine Liebste?»
«Meine
Liebe
…», gibt der Lemming zurück. Und er registriert mit wohligem Schaudern, dass man ein Wort nicht immer steigern muss, um seinen Superlativ zu erreichen.
«Trautes Heim also …» Pokornys Stimme ist leise, fast ein wenig melancholisch.
«Ach weißt du … Nicht wirklich. Im Grunde nicht anders als hier in Schönbrunn: eine Gazelle, ein Hund … Und ein kleiner, ein ganz kleiner Lemming.»
Man muss nicht protzen mit seinem Glück.
«Dann schenk ihm eine Knackwurst, mit meinen Empfehlungen.»
«Wem? Dem Lemming?»
«Dem Hund!» Pokorny lacht auf.
Geschafft. Und zwar unfallfrei. Der Lemming biegt in den Wirtschaftshof ein und parkt den Wagen.
«Sag, Poldi?»
«Ja?»
«Hast du … das Wachhaus net zug’sperrt?»
«Doch, natürlich … Scheiße, was ist … Scheiße!»
Der Lemming springt aus dem Wagen und starrt auf die Tür des Häuschens. Sie steht halb offen.
«Verdammt!»
Er stürmt los, stoppt seinen Lauf aber schon nach wenigen Metern und greift sich erschrocken an die linke Hosentasche: Das vertraute Geräusch, das jedes Mal dann entsteht, wenn der Lemming in raschere Gangart verfällt, es fehlt.
«Was ist los, Poldi?»
«Mein Schlüsselbund …»
Nicht ganz exakt formuliert. Kein fröhliches Klimpern und Klirren im Schritt, kein rentierhaft-rhythmischer Glöckchenklang, also kurz gesagt:
kein
Schlüsselbund. Und wiedenn auch? Schließlich steckt er doch an der geöffneten Tür des Wachhauses.
«Der Weihnachtsmann … Die Sau!»
Santa Claus ist diesmal nicht durch den Kamin gekommen. Und er hat alles andere als festlich-besinnliche Spuren hinterlassen: Das spärliche Mobiliar ist durchwühlt, auf dem Boden verstreut liegt die Bibliothek der einsamen Nachtwächterherzen: wallende Brüste und wogende Schenkel, hüllenlos, aber in Fülle. Der Lemming stürmt achtlos darüber hinweg; er stürmt zum Regal und tastet verzweifelt und sucht, was nicht mehr zu finden ist.
Der Sack, der Schatz, die Saliera ist verschwunden.
Ein heftiges Niesen: Pokorny tritt ein. Er bleibt stehen, wortlos, sprachlos. Betrachtet das Chaos. Setzt sich wieder in Bewegung und geht langsam auf den Schreibtisch zu.
«Schau her … Schau her, Poldi …»
Wie es scheint, hat sich Knecht Ruprecht den Sitten und Bräuchen der westlichen Wirtschaftswelt angepasst. Er schenkt nicht mehr, er schachert; der Weihnachtsmann ist zum Geschäftsmann mutiert:
Ein Schlüsselbund gegen die Freiheit.
Ein goldenes Salzfass gegen ein weißes Kuvert.
Pokorny nimmt den Umschlag von der Schreibtischplatte. Wiegt ihn prüfend in der Hand und reißt ihn auf. Ein dickes Geldbündel fällt heraus: zwanzig lavendelfarbene Scheine, insgesamt zehntausend Euro …
«Der Hörtnagl …»
Sie haben es beide zugleich geflüstert. Nun heben sie die Köpfe und starren einander an, fragend, stumm und müde – vor allem müde, jeder auf seine Weise erschöpft.
Pokorny ist der Erste, der die Sprache wiederfindet.
«Ich hab genug», sagt er leise. «Mir reicht’s. Der Alte soll sie haben … Du weißt ja, Poldi: Ein Versprechen ist ein Versprechen,und ich hab das meine gehalten. Ich hab auf das blöde Ding aufgepasst, so gut ich konnte. Und du …»
«Ich hab’s verschissen …», murmelt der Lemming.
«Nein.» Pokorny macht einen Schritt auf ihn zu. «Du hast auf den blöden Pokorny aufgepasst, so gut du konntest …»
Ein Zögern. Ein Räuspern. Pokorny streckt die Arme aus und drückt den Lemming an sich – eine linkische, heftige, kurze Umarmung. Er räuspert sich noch einmal, wendet sich um und greift nach dem Geldbündel. Zählt rasch zehn Scheine ab, faltet sie achtlos zusammen und hält sie dem Lemming hin. «Nimm, Poldi. Nimm dir deinen Teil und schau, dass d’ weiterkommst. Vergiss die ganze G’schicht und geh nach Haus, zu deinem ganz persönlichen Schatz …»
Wahrscheinlich hat Pokorny Recht: Das letzte Gefecht ist
Weitere Kostenlose Bücher