Das Schweigen des Sammlers
kategorisch, als Ardèvol ihm davon erzählte. »Diese Leute sind nur glücklich, wenn sie mit einer Lupe in der Hand vor angefressenen, modrigen Papieren sitzen.«
»Ich auch.«
»Wozu nutzen einem tote Sprachen?«, fragte Morlin in seinem umständlichen Latein.
»Pater Faluba hat gesagt, dass wir Menschen nicht ein Land bewohnen, sondern eine Sprache. Und indem wir alte Sprachen wieder zum Leben erwecken …«
» Sciocchezze . Stupiditates. Die einzige tote Sprache, die noch einigermaßen lebendig ist, ist Latein.«
Sie waren auf der Via di Sant’Ignazio unterwegs, Ardèvol in seiner Soutane, Morlin in seiner Kutte. Zum ersten Mal war Ardèvol sein Freund fremd. Er blieb stehen und fragte ihn verwundert, woran er eigentlich glaube. Auch Morlin hielt an und sagte ihm, er sei Dominikaner geworden, weil er das tiefe innere Bedürfnis habe, anderen zu helfen und der Kirche zu dienen, und nichts werde ihn von diesem Weg abbringen, weil man der Kirche durch Werke dienen müsse; nicht durch das Studium halb zerfallener Papiere, sondern indem man Einfluss auf Menschen ausübte, die Einfluss auf das Leben von … Er unterbrach sich, dann fuhr er fort et cetera et cetera et cetera, und beide Freunde lachten schallend. In diesem Augenblick ging Carolina das erste Mal an ihnen vorbei, aber keiner von beiden bemerkte sie. Und wenn ich mit Lola Xica zu Hause ankam, musste ich Geige üben, während sie das Abendessen machte und der Rest der Wohnung im Dunkeln lag. Das gefiel mir gar nicht, weil hinter jeder Tür ein Bösewicht lauern konnte, und so trug ich Schwarzer Adler in der Tasche mit mir herum, da mein Vater schon vor Jahren beschlossen hatte, sämtliche Medaillons, Schutzarmbänder, Heiligenbilder und Messbücher aus dem Haus zu verbannen, und der arme kleine Adrià Ardèvol ein Bedürfnis nach unsichtbarem Schutz verspürte. Eines Tages blieb ich, anstatt Geige zu üben, im Esszimmer vor dem Bild über der Anrichte stehen und betrachtete gebannt, wie die hinter Trespui untergehende Sonne die Abtei von Santa Maria de Gerri in magisches Licht tauchte. Es war das immer gleiche Licht, das mich faszinierte und in meiner Phantasie unzählige wilde Geschichten weckte, und so hörte ich nicht die Wohnungstür und auch sonst nichts, bis die raue Stimme meines Vaters mich zusammenzucken ließ.
»Was stehst du hier so nutzlos herum? Hast du keine Hausaufgaben? Musst du nicht Geige üben? Hast du sonst nichts zu tun?«
Und Adrià verschwand mit immer noch heftig klopfendem Herzen in seinem Zimmer, ohne die Kinder zu beneiden, die von ihren Eltern mit einem Kuss begrüßt wurden, weil er nicht glaubte, dass es so etwas gab.
»Carson: Das ist Schwarzer Adler vom tapferen Stamm der Arapaho.«
»Hi.«
»Howgh.«
Schwarzer Adler küsste Sheriff Carson, wie der Vater ihn nicht geküsst hatte, und Adrià steckte beide zusammen mit ihren Pferden in die Nachttischschublade, damit sie sich miteinander vertraut machen konnten.
»Du wirkst bedrückt.«
»Drei Jahre Theologiestudium«, sagte Ardèvol nachdenklich, »und ich weiß immer noch nicht, was dich wirklich interessiert. Die Gnadendoktrin?«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, beharrte Morlin.
»Das war keine Frage. Die Glaubwürdigkeit der christlichen Offenbarung?«
Morlin sagte nichts, und Ardèvol fragte: »Warum studierst du überhaupt an der Gregoriana, wenn die Theologie …«
Die beiden hatten sich von der Studentenschar abgesetzt, die von der Universität in Richtung Wohnheim trottete. In zwei Jahren Christologie und Soteriologie, Metaphysik I, Metaphysik II, Deus Revelatus und den Standpauken der strengsten Professoren – allen voran Levinski von Deus Revelatus, der fand, dass Fèlix Ardèvols Fortschritte in seinem Fach keineswegs den allseits in ihn gesetzten Erwartungen entsprachen – hatte sich Rom kaum verändert. Ungeachtet des Krieges, der in Europa wütete, glich die Stadt nicht etwa einer offenen Wunde, sie war allenfalls ein wenig ärmer geworden. Die Studenten an der Päpstlichen Universität studierten weiter und scherten sich nicht um den Krieg und die von ihm verursachten Dramen. Jedenfalls die meisten. Und sie wurden immer klüger und tugendhafter dabei. Jedenfalls die meisten.
»Und du?«
»Die Theodizee und die Erbsünde interessieren mich nicht länger. Ich will keine weiteren Rechtfertigungen mehr hören. Es fällt mir schwer, zu glauben, dass Gott das Böse zulässt.«
»Das habe ich schon seit Monaten vermutet.«
»Du
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