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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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ein.
    »Adrià, Goldstück! Wo steckst du bloß, dass wir dich nicht finden?« Und dann, leise: »Und wenn er entführt worden ist?«
    »Red keinen Blödsinn.«
    »Was müssen wir jetzt tun?«
    Bruder Julià sah seinen Mitbruder befremdet an. Er schwieg besorgt. Adrià hakte nach, was denn nun?
    »Nun … das Allerheiligste vorbereiten, das Kloster schließen. Den Schlüssel verwahren und zu Gott beten, dass er uns verzeihen möge.« Nach einer Ewigkeit: »Und auf die Ankunft der Brüder aus Santa Maria de Gerri warten.« Er sah ihn erstaunt an: »Warum fragt Ihr mich das?«
    »Flieht.«
    »Was sagt Ihr?«
    »Flieht.«
    »Ich?«
    »Ja, Ihr. Sie kommen, um Euch zu töten.«
    »Bruder Adrià …«
    »Wo bin ich?«
    »Ich bringe Euch einen Schluck Wasser.«
    Bruder Julià verschwand durch die Tür, die in den kleinen Kreuzgang führte. Draußen warteten die Vögel und der Tod; drinnen der Tod und eine erloschene Kerze. Bruder Adrià vertiefte sich ins fromme Gebet, bis sich die Helligkeit der Erde bemächtigt hatte, die wieder flach und voller geheimnisvoller, unerreichbarer Gefilde war.
    »Wir müssen alle seine Freunde und Bekannten befragen. Und wenn ich alle sage, dann meine ich auch alle.«
    »Jawohl.«
    »Und gebt die Suche nicht einfach irgendwann auf. Weitet den Radius auf die gesamte Bergregion aus. Und auf den Tibidabo einschließlich des Vergnügungsparks.«
    »Dieser Mann kann kaum gehen.«
    »Das ist egal: Durchsucht die gesamte Bergregion.«
    »Jawohl.«
    Er schüttelte den Kopf, als erwachte er aus einem tiefen Traum, stand auf und ging in seine Zelle, um das Allerheiligste und den Schlüssel zu holen, mit dem er seit über dreißig Jahren nach dem Vesperläuten das Klostertor verschlossen hatte. Dreißig Jahre lang war er der Bruder Pförtner von Sant Pere de Burgal gewesen. Er wanderte durch die leeren Zellen, das Refektorium und die Küche und ging auch in die Kirche und den winzigen Kapitelsaal. Und er fühlte sich, als wäre er allein schuldig an der Auslöschung des Klosters von SantPere de Burgal. Mit der freien Hand schlug er sich gegen die Brust und sagte, confiteor, Dominus. Confiteor: Mea culpa. Das erste Weihnachten ohne Missa in Nocte und ohne die Gebete zur Matutin.
    Er nahm das Kästchen mit den Tannenzapfen- und Spitzahornsamen, die verzweifelte Gabe einer unglücklichen Frau, die gehofft hatte, durch dieses Geschenk Vergebung dafür zu erlangen, dass sie sich durch den verdammenswürdigen Akt des Selbstmords an der göttlichen Hoffnung versündigt hatte. Einen Moment lang betrachtete er die Schachtel und dachte an die unglückselige Frau des Scheelen; er murmelte ein kurzes Gebet für ihr Seelenheil, wenn es denn für den Verzweifelten überhaupt Rettung gab, und vergrub die Schachtel wieder in der tiefen Tasche seiner Kutte. Dann nahm er das Allerheiligste und den Schlüssel und trat in den engen Korridor hinaus. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, noch einen letzten Rundgang durch das Kloster zu unternehmen, ganz allein. Seine Schritte hallten im Zellengang wider, im Kapitelsaal, im Kreuzgang … Schließlich beendete er den Rundgang, indem er einen Blick in das winzige Refektorium warf. Eine der Bänke stieß an die Wand, sodass der schmutzige Putz abblätterte. Mechanisch rückte er sie zurecht, und gegen seinen Willen lief eine Träne die Wange hinunter. Mit einer heftigen Handbewegung wischte er sie ab. Er schloss die Klostertür und drehte den Schlüssel zweimal um; das Geräusch hallte in seiner Seele wider. Dann legte er den Schlüssel in das Allerheiligste und setzte sich hin, um auf die Ankömmlinge zu warten, die vom Aufstieg erschöpft waren, obwohl sie in Soler übernachtet hatten. Mein Gott, was mache ich hier, wenn …
    Bernat dachte, das ist unmöglich, aber ich habe keine andere Erklärung. Verzeih mir, Adrià. Ich weiß, es ist meine Schuld, aber ich kann einfach nicht auf dieses Buch verzichten. Confiteor. Mea culpa.
    Noch bevor die Schatten eine Handbreit weitergerückt waren, stand Bruder Adrià auf, klopfte sich den Staub von der Kutte und ging ein paar Schritte den Pfad hinunter, das Allerheiligste fest umklammert. Drei Mönche kamen ihmentgegen. Mit Tränen in den Augen wandte er den Blick ab, um dem Kloster Lebewohl zu sagen und machte sich an den Abstieg, um seinen Mitbrüdern den beschwerlichen Rest des Weges zu ersparen. Viele Erinnerungen starben mit dieser Geste. Wo bin ich? Auf Wiedersehen, ihr Gefilde. Auf Wiedersehen, ihr Steilhänge und du,

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