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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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auch?«
    »Nein: Ich habe vermutet, dass du dich zu sehr in die Sache versteigst. Mach’s wie ich: Beschränk dich darauf, die Welt zu betrachten. An der Fakultät für Kirchenrecht amüsiere ich mich prächtig. Rechtliche Beziehungen zwischen Kirche und Zivilgesellschaft; kirchliche Sanktionen; zeitliche Güter der Kirche; der Reiz der Ordensgemeinschaften; die Consuetudine canonica …«
    »Was redest du denn da!«
    »Spekulative Studien sind reine Zeitverschwendung, das Studium der kanonischen Regeln ist erholsam dagegen.«
    »Nein, nein«, rief Ardèvol aus. »Ich liebe Aramäisch; ich bin versessen darauf, in Handschriften die morphologischen Unterschiede zwischen dem Bohtan-Neuaramäisch und dem Barzani-Jüdisch-Neuaramäisch zu erkennen. Oder zu begreifen, wie Koy Sanjaq Surat oder Mlahsö funktionieren.«
    »Soll ich dir was sagen? Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Studieren wir an der gleichen Uni? An der gleichen Fakultät? Sind wir beide in Rom?«
    »Schon gut. Ich würde einfach gern alles erfahren, was über das Chaldäische, Babylonische, Samaritanische bekannt ist, es sei denn, ich müsste es bei Pater Levinski lernen …«
    »Und was nützt dir das?«
    »Und was nützt es dir, den Unterschied zwischen geschlossener, vollzogener, rechtmäßiger, vermeintlicher, gültiger und ungültiger Ehe zu kennen?«
    Beide prusteten mitten auf der Via del Seminario los. Eine dunkel gekleidete Dame warf einen leicht pikierten Blick auf die beiden jungen Priester, die gegen jeden Anstand auf offener Straße herumalberten.
    »Was bedrückt dich, Ardevole? Siehst du, jetzt habe ich dich gefragt.«
    »Was bedeutet dir wirklich etwas?«
    »Alles.«
    »Und die Theologie?«
    »Ist ein Teil von allem«, entgegnete Morlin und hob die Arme, als wollte er die Fassade der Biblioteca Casanatense und die zwei Dutzend Menschen segnen, die gerade ahnungslos an ihnen vorüberliefen. Dann ging er weiter, und Fèlix Ardèvol musste sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten.
    »Sieh dir nur den Krieg in Europa an«, fuhr Morlin fort und wies energisch Richtung Afrika. Und dann sagte er leise, wie aus Furcht vor Spionen: »Italien hat gesagt: ›Italien muss seine Neutralität wahren, schließlich ist der Dreibund ein reines Defensivbündnis.‹ Und die Entente Cordiale erwiderte: ›Wir Alliierten werden den Krieg gewinnen‹, worauf Italien würdevoll verkündete: ›Mich bindet mein Wort, und das allein zählt.‹ ›Wir versprechen dir die irredentistischen Regionen Trentino, Istrien und Dalmatien.‹ ›Und ich wiederhole‹, beharrte Italien noch würdevoller und hob die Augen zum Himmel, ›dass Italien die Neutralität wahrt, wie es sich gehört.‹ ›Nun gut: Wenn du dich uns heute anschließt – und das heißt nicht morgen, hörst du? – also, wenn du dich uns heute noch anschließt, bekommst du das ganze irredentistische Paket: Südtirol, Trentino, Venezia Giulia, Istrien, Fiume, Nizza, Korsika, Malta und Dalmatien.‹ ›Wo muss ich unterschreiben?‹, fragte Italien und rief dann mit leuchtenden Augen: ›Es lebe die Entente! Tod den Mittelmächten!‹ Und das war’s, so läuft das nun mal in der Politik, Fèlix. Auf der einen wie der anderen Seite.«
    »Und die großen Ideale?«
    Nun blieb Félix Morlin stehen und blickte, um eine möglichst lapidare Bemerkung bemüht, zum Himmel auf: »Die internationale Politik wird nicht von den großen internationalen Idealen bestimmt, sondern von den großen internationalen Interessen. Und Italien hat das bestens verstanden: Steht es erst einmal auf Seiten der Guten – sprich, auf unserer Seite –, kommt es zu einer Offensive im Trentino, bei der all die wunderbaren Wälder dran glauben müssen. Dann erfolgt der Gegenangriff, die Schlacht von Karfreit, dreihunderttausend Tote, die Piaveschlacht, Durchbruch durch die Front beiVittorio Veneti, der Waffenstillstand von Padua, die Gründung des Reichs der Serben, Kroaten und Slowenen, ein künstliches Gebilde, das zwar Jugoslawien heißen, aber kaum länger als ein paar Monate halten wird, und ich wage zu behaupten, dass die irredentistischen Regionen die Mohrrübe sind, die die Alliierten wieder zurückziehen werden. Italien wird dumm aus der Wäsche schauen. Und da alle anderen sich weiter herumzanken werden, wird der Krieg nie ganz zu Ende sein. Und auf den wahren Feind warten wir noch, der ist noch gar nicht erwacht.«
    »Und wer ist das?«
    »Der bolschewistische Kommunismus. Sollte ich mich irren, kannst du mir das

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