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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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Vaters zurückkehren würde.
    »Was hast du?«, fragte sie ärgerlich.
    »Vielleicht sind auch deine Verwandten verbrannt«, platzte ich heraus.
    »Wladek und Fejge sind nicht verbrannt«, antwortete sie verächtlich.
    Ich blieb auf der Bank in der Allee sitzen und wartete darauf, dass Bracha endlich auftauchen und mir mehr von der Shoah erzählen würde.
     
    Bracha tauchte auf, und auch diesmal überfiel sie uns mit einer dramatischen Mitteilung. »Meine Mutter hat gesagt, dass wir zu unserer Bat Mizwa als Geschenk die Periode bekommen.« Ihre großen schwarzen Augen glühten. »Periode ist Blut im Pipi, das ist dann ein Zeichen, dass wir schon groß sind«, erklärte sie begeistert.
    Ich war enttäuscht, ich hatte gehofft, mehr von der Shoah zu hören.
    »Periode?«, stotterte ich. Das Wort hatte ich noch nie gehört.
    »Wenn ihr erst eure Periode bekommt, könnt ihr eureMütter nach dieser Shoah fragen, von der ich euch erzählt habe, nach dem Krematorium, in dem man Juden verbrannt hat, nach den Muselmännern, das waren Juden, die gestreifte Pyjamas anhatten und ausgesehen haben wie Skelette, und nach den Kapos, das waren jüdische Verräter, die den Deutschen geholfen haben und von denen heute noch welche bei uns im Viertel wohnen.«
    Ich war elektrisiert. Ich begriff, dass Bracha eigentlich ein Geheimnis in einem Geheimnis in einem Geheimnis offenlegte. Aufmerksam lauschte ich ihr. Aber Dorit wischte Brachas Worte mit einer Handbewegung weg und forderte sie auf, zu verschwinden.
    »Du wirst schon sehen, dass ich nicht gelogen habe, wenn du die Periode bekommst, wird dir deine Mutter genau dasselbe erzählen, was meine Mutter mir erzählt hat, und dann wirst du mir glauben, dass wegen der Deutschen, ausgelöscht sei ihr Name und ihr Andenken, niemand im Viertel Verwandte hat, keinen Großvater und keine Großmutter, keine Onkel und keine Tanten, alle sind verbrannt worden.« Bracha glühte vor Aufregung. »Wenn du die Periode bekommst, wirst du sehen, dass ich keinen Unsinn erzählt habe.« Sie schaute mich an.
    »Blut im Pipi!« Für Dorit stand endgültig fest, dass Bracha spinnt.
    »Wir haben zu tun, in Sachen Ameisen«, verkündete sie Bracha. »Du störst. Und außerdem, ich habe Verwandte.«
    Bracha lief gekränkt davon.
    Ich blieb mit Dorit zurück und wir beobachteten den Zug der Ameisen. Nach einer Weile gab ich auf und sagte, wenn wir schon etwas für die Zeitung schreiben wollten, dann doch lieber über die Shoah als über Ameisen, diesesThema zu verbreiten sei meines Erachtens wichtiger. Dorit schwieg.
    »Vielleicht schreibst du über Ameisen und ich über die Shoah«, schlug ich als Kompromiss vor. Aber Dorit gab mir keine Antwort, und bis zum Abend wechselten wir kein Wort mehr miteinander.
     
    Am Abend ging ich wieder zu Chajale, ich hoffte, sie für Brachas Geschichten interessieren zu können. Zu meiner Enttäuschung setzte sich Chajale ans Klavier und schlug ihr Notenheft auf.
    »Das ist Chopin«, erklärte sie und sagte, dass sie sich auf die Aufnahmeprüfung am Konservatorium in Ramat Gan vorbereiten müsse. Soll sie sie bestehen, das wünschte ich mir aus ganzem Herzen, soll sie doch für immer dort bleiben.
    »Viel Erfolg am Krematorium«, sagte ich.
    »Kon-ser-va-to-rium«, betonte sie gereizt.
    »Von mir aus«, sagte ich patzig. Sie schien endlich zu begreifen, dass ich wütend auf sie war, denn plötzlich fiel es ihr ein, mich zu fragen, was ich ihr überhaupt hatte erzählen wollen.
    »Irgendwas, etwas, was Golda Bracha erzählt hat«, sagte ich.
    »Bracha spinnt«, sagte Chajale und lachte. »Und ihre Mutter auch. Und ihr Vater ist der Verrückteste von allen.« Dann fuhr sie fort zu üben.
    Ich und meine Albträume kehrten nach Hause zurück. Nachts warf ich mich im Bett hin und her und sah brennende Menschen.
    Am nächsten Morgen saß meine Mutter wieder schweigend in ihrem Sessel, mit einer Tasse Kaffee und einer TüteBeruhigungstabletten und immer noch derselben alten polnischen Zeitung, lauschte den Nachrichten im Radio, sagte noch nicht einmal guten Morgen zu mir und lächelte auch nicht, wie sie es sonst tat.
    »Mama, bekommen Mädchen Blut ins Pipi?«, fragte ich in der Hoffnung, sie zu verblüffen. Doch zu meiner Verwunderung sagte sie bloß: »Ja, jeden Monat.« Sie stand sogar auf, ging zum Bücherregal, zog ein Buch heraus und drückte es ans Herz. Wie schön wäre es, wenn sie mich auch so an sich drücken würde, dachte ich eifersüchtig.
    Anatomiebuch
las ich auf dem

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