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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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eingeatmet.
    »Bald wird der Schnee und das Eis schmelzen und in den Bächen wird klares Wasser fließen«, hörte ich sie sagen. »Und im Frühling werden kleine Kinder im blühenden Wald Preiselbeeren, Himbeeren und Kirschen pflücken, und ein Eichhörnchen mit einem dichten Schweif wird auf den Zweigen herumhüpfen.« Ihr Blick schweifte in die Ferne.
    An der Haltestelle beim Habima-Theater stiegen wir aus dem Bus und überquerten die Straße. Vor einem dreistöckigen Haus blieb meine Mutter stehen. Die oberen Stockwerke wurden halb von einer Baumkrone verdeckt, die Fenster von Vorhängen, der Balkon von einer blau-weißen Markise.
    »Hier, im ersten Stock links«, sagte meine Mutter zu mir, »wohnt dein Onkel Aaron. Er war siebzehn, als er Polen verließ. Danach haben wir nichts mehr von ihm gehört. Ich wurde erst geboren, nachdem er schon weggegangen war. Deine Großmutter hat mir immer erzählt, ich hätte einen Bruder in einem fernen Land. Einen Bruder, der noch nicht mal wisse, dass er eine kleine Schwester bekommen habe,und würde er es erfahren, dann würde er es bestimmt nicht glauben.«
    Wir stiegen in den ersten Stock hinauf und blieben vor einer Tür stehen. Meine Mutter deutete auf das Türschild mit der Aufschrift »Aaron und Berta Hochdorf«.
    »Jetzt hör mir gut zu«, ihr Tonfall veränderte sich, »falls mir etwas passiert, gehst du hierhin, in die Huberman-Straße 6, erster Stock links, klopfst an die Tür und sagst, dass du die Enkelin von Frejde bist.«
    Dann gingen wir die Treppe wieder hinunter und traten hinaus auf die Straße.
    Ich schaute mich um und sah einen alten Mann auf dem Balkon stehen und herunterschauen.
    Ich lächelte und winkte ihm zu. Nächsten Frühling werden wir wiederkommen, versprach ich ihm in Gedanken.
     
    Auf dem Heimweg hörte meine Mutter mich ab. »Falls mir etwas passiert, wohin wirst du gehen?«
    »In die Huberman-Straße 6, erster Stock links«, antwortete ich.
    »Du bist nicht allein in der Welt«, sagte sie zu mir und zu sich selbst: »Sie ist nicht allein in der Welt.«

    Ich fuhr weiter durch das Viertel, vorbei an den vertrauten Häusern, dem Park und der Allee. Als ich mich der Krankenkassenambulanz näherte, verringerte ich die Geschwindigkeit.
    Plötzlich, nach so vielen Jahren, sah ich den Flur wieder vor mir, die Tür mit dem Schild: »Dr.   Wollmann   – Arzt   / Helena   – Krankenschwester«
.
    Und mir stieg wieder der Geruch von Medikamenten und Lysol in die Nase.
    Ich spürte, wie mir ein Schauer über den Rücken lief, und ich spürte auch, wie Sehnsucht in mir aufstieg. Mit zitterndem Fuß drückte ich auf das Gaspedal, ich wollte weg von hier, schnell weg. Doch noch bevor ich das Viertel hinter mir lassen konnte, musste ich anhalten, vor einer defekten roten Ampel staute sich der Verkehr. Meine Gedanken schweiften wieder zurück in die Vergangenheit.

    Am Morgen nach jener Nacht voller Angst war meine Mutter aufgestanden, sie saß im Nachthemd in ihrem Sessel, eingehüllt in Schweigen, neben sich eine Tasse Kaffee, den sie nicht trank, in der Hand die polnische Zeitung von vor ein paar Tagen, die sie nicht las.
    »Was habe ich getan?«, fragte ich erschrocken.
    Bestimmt hatte ihr Golda Poschibuzki erzählt, dass ich gar nicht ins Sommercamp fuhr. Und auch das, was wir von Bracha wussten.
    Meine Mutter schwieg nur.
    Bestimmt ist sie traurig, weil ihre Familie in der Shoah verbrannt wurde, versuchte ich mir ihr Schweigen zu erklären.
    Erst da verließ ich das Haus, rannte zur Allee und hoffte, Bracha würde bereits dort warten und mir weitere Einzelheiten von jenem Ort erzählen, der Shoah genannt wurde, und vielleicht auch etwas über meine Mutter. Aber als ich bei der Bank ankam, saß da nur Dorit mit einer Lupe, einem Heft und Stiften. Sie erklärte, sie wolle jetzt ernsthaft die Sache mit den Ameisen angehen. Heute würden wir alle Ameisen indiesem Bau kennenlernen, ihnen Namen geben, Grenzen markieren und ein Schild im Sand aufstellen, auf das wir schreiben würden: »Vorsicht, nicht betreten   – hier leben Ameisen!« Sie sprudelte über vor dummen Ideen. Nicht einmal die Hitze und die juckenden Ameisenbisse an ihren Beinen vermochten ihre Begeisterung zu dämpfen. Als ich mich neben sie setzte, gab sie mir das Heft und einen Stift und verlangte, ich solle das Protokoll schreiben.
    Ich hielt das Heft und den Stift, ohne etwas zu schreiben. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass Dorit endlich wieder ins Sommercamp ihres

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