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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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hat ihr erzählt, dass sie es gestohlen hatte, aber nicht für sich selbst. Das Brot hatte sie für Fejge gestohlen, die damals an Typhus erkrankt war.«
    Dorit schluckte. »Du weißt es bestimmt nicht, aber wegendeiner Mutter habe ich beschlossen, Krankenschwester zu werden«, sagte sie, bevor sie aufstand und sich wieder entschuldigte, dass sie jetzt unbedingt gehen müsse.
    »Sag mir«, brachte ich heraus, bevor sie verschwand, »warum eigentlich hast du mir in all den Jahren nicht erzählt, was du über mich wusstest?«
    Es war die Frage, die ich jahrelang unterdrückt hatte. Jetzt war sie heraus.
    »Was habe ich dir nicht erzählt?«
    Mir wurde klar, dass sie völlig verblüfft war, dass sie die Frage nicht verstand. In ihren Augen erkannte ich den sich entziehenden Blick meiner Mutter.
     
    Doch diesmal wollte ich mir keine beruhigenden Geschichten ausdenken. Ich wollte die Erinnerungen an meine Kindheit festhalten, Hinweise entdecken und Details sammeln. Ich wollte für mich eine geordnete Biographie, ich wollte die Dinge so sehen, wie sie in Wirklichkeit waren, und nicht, wie ich sie mir zusammengeträumt hatte. Ich blieb sitzen. Ich musste mich beruhigen.
    Eine alte Frau mit einer Gehhilfe betrat das Café, begleitet von einer philippinischen Pflegerin, und näherte sich meinem Tisch.
    »Wer bist du?«, fragte sie mich.
    Da hat die Alte ja den richtigen Zeitpunkt gefunden, mir diese Frage zu stellen, dachte ich und musste lachen.
    »Sie sitzt auf meinem Platz«, beklagte sie sich bei ihrer Pflegerin.
    Die Kellnerin kam und bedeutete mir pantomimisch, was kann man machen, die alte Frau sei leider schon völlig verdreht.
    »Ich bin Alisa«, sagte ich und wollte der Frau meinen Platz überlassen, um dem Alter die gebührende Ehre zu erweisen.
    »Nun, nun, bleib sitzen«, sagte sie großzügig.
    Sie kommt mir bekannt vor, dachte ich, aber es fiel mir nicht ein, wer die Alte in dem grauen Seidenkostüm und mit der schweren Bernsteinkette war. Ihre dünnen, grauen Haare lugten unter einem breitrandigen Strohhut hervor, und ihre nackten Arme waren übersät von Altersflecken.
    »Bist du krank?«, fragte sie mich.
    »Nein, warum?«, sagte ich erschrocken.
    »Sie ist sehr blass«, sagte sie zu ihrer Pflegerin und setzte sich an den Nachbartisch, direkt neben mich.
    Wieder schaute ich sie an. Ich schätzte sie auf über achtzig. Ihr Gesicht war faltig, die kleinen Augen lagen tief in den Höhlen, ihre Lippen waren rot angemalt. Sie beugte sich zu mir. »Hier gibt es einen Arzt«, sagte sie besorgt und deutete in die Richtung von Dr.   Wollmanns Praxis. »Du solltest zu ihm gehen.« Dann drehte sie sich zu ihrer Pflegerin. »Jetzt
rosinkes
!«, befahl sie ihr, die Kellnerin wies sie an: »Und den Kaffee!«
    »Einen Milchkaffee für Gitl«, rief die Kellnerin.
    Die Mutter von Chajale! Ich schaute sie überrascht an. Es war fast dreißig Jahre her, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
    »Wer bist du?«, fragte sie erschrocken, als sie merkte, dass ich sie erkannt hatte. Als fürchtete sie, ich wollte sie an den Feind ausliefern. »Woher kennt sie mich?«, fragte sie ihre Pflegerin flüsternd.
    »Ich bin Alisa, die Tochter von Helena«, sagte ich. Ich war nicht sicher, ob sie verstand, wer ich war, doch sie beruhigtesich jedenfalls und aß Rosinen aus einer rissigen Plastikdose.
    »Wie geht es dir?«, fragte ich aufgeregt.
    »Nun, solange man lebt, kann man auf den Tod hoffen«, antwortete sie.
    Ich fing an zu lachen.
    »Du weißt, mein Mann ist gestorben«, fuhr sie fort und bot mir Rosinen aus ihrer Dose an. Aus Höflichkeit nahm ich eine Handvoll.
    »Kein weiteres Leid möge dich treffen«, sagte ich.
    »Also wirklich, nur wenn ich sterbe, trifft mich kein weiteres Leid«, antwortete sie bitter. »Sag deinen Eltern, dass mein Jissachar gestorben ist.«
    »Aber meine Eltern sind auch tot«, erinnerte ich sie.
    »Narisch kind«
, sagte sie verächtlich, »Dummkopf, das war mein Mann Jona, der gestorben ist, und auch mein Sohn, mein kleiner Junge, ist im Krieg geblieben.«
    Ja, dachte ich, das weiß ich.
    »Du weißt von meinem Sohn?« Sie starrte mich mit einem Röntgenblick an. »Wer hat dir etwas erzählt?«
    Ja, wer? Wer hat mir etwas erzählt? Vielleicht weißt du ja, ob meine Mutter auch einen kleinen Jungen hatte, der im Krieg geblieben ist? Ich erstickte fast an dieser Frage. Vielleicht erinnerst du dich an meinen Vater? Vielleicht kannst du mir erklären, warum mir keiner je etwas gesagt hat?
    »Also, wie

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