Das Schweigen meiner Mutter
dir angerufen, du wirst es nicht glauben, was ich für dich gefunden habe.«
Sie wedelte mit Papieren, die sie in der Hand hielt. »Schau, das sind die Geburtsurkunden deiner Eltern«, sagte sie atemlos und hielt mir ein Blatt Papier vor die Augen.
Name: Jakob Roża
Name des Vaters: Mosche
Name der Mutter: Rachel
Geburtsort: Stoczek – Polen
Geburtsjahr: 1918
»Nun, wenigstens ist er geboren worden«, fauchte ich.
Bracha hielt mir aufgeregt auch das zweite Blatt hin.
Name: Helena Hochdorf
Name des Vaters: David
Name der Mutter: Frejde
Geburtsort: Przeworsk – Polen
Geburtsjahr: 1909
Bracha bezog nun auch Dorit in ihre aufsehenerregende Entdeckung ein: »Begreifst du, ihre Mutter hat allen im Viertel erzählt, sie sei 1920 geboren, dabei war es 1909. Ich kenne solche Lügen. Schließlich bin ich eine Shoah-Expertin«, prahlte sie, »ich weiß, dass viele Überlebende ihre Biographie verändert haben, um Arbeit zu bekommen oder um bestimmte Dinge zu verbergen. Als der Krieg ausbrach, war deine Mutter nicht neunzehn, sondern dreißig! In so einem Alter besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie schon verheiratet gewesen war und Kinder gehabt hatte.« Bracha tankte noch mehr Begeisterung. Die Shoah-Expertin richtete sich stolz auf und fuhr fort: »Ich habe schon gestern angefangen, Nachforschungen nach ihrem ersten Mann und den Kindern anzustellen.«
»Meine Mutter wurde 1920 geboren und starb 1990«, sagte ich das auf, was ich wusste und was auch in ihrem Personalausweis,in ihrer Heiratsurkunde und in ihrer Sterbeurkunde stand.
»Bracha spinnt«, flüsterte mir Dorit wie früher zu.
»Bestimmt gab es noch eine andere Helena Hochdorf in Polen«, sagte ich und gab Bracha die Geburtsurkunde zurück, die sie im Archiv gefunden hatte.
»Was hast du?«, fuhr sie mich an und wiederholte, was ich wusste und in diesem Moment zu vergessen gesucht hatte. »Deine Mutter stammt aus Przeworsk. Und meine Mutter hat mir gesagt, dass du nach deiner Großmutter heißt.« Sie schaute Dorit an. »Frejde, das ist ein jiddischer Name und bedeutet Freude. Fast hätte man sie Simcha genannt. Zum Glück hat meine Mutter vorgeschlagen, den Namen nicht direkt ins Hebräische zu übersetzen, sondern sie wenigstens Alisa zu nennen, die Fröhliche.«
Sie hatte mich zum Schweigen gebracht.
»Wenn sie also 1909 geboren wurde«, sagte Dorit langsam, jedes einzelne Wort betonend, »heißt das, dass sie bei Kriegsausbruch dreißig war, bestimmt war sie da schon verheiratet, und bestimmt hatte sie Kinder.« Sie war zum gleichen Schluss gelangt wie Bracha.
Meine Mutter war verheiratet gewesen.
Sie hatte Kinder gehabt.
»Mama, warum hast du eine Narbe?«, hatte ich sie in einer kalten Mondnacht gefragt, als ich die Narbe auf ihrem Bauch entdeckte.
»Eine Operation«, hatte sie knapp geantwortet.
»Ein Kaiserschnitt?«
»Du bist auf natürliche Art auf die Welt gekommen«, erwiderte sie, öffnete den Kleiderschrank, der in meinem Zimmer stand, nahm ein Nachthemd heraus und zog es an. Ihr Körper war wieder bedeckt.
»Gute Nacht«, sagte sie, machte das Licht aus und verließ das Zimmer.
»Was hat Gott von mir gewollt, dass er mir sie gegeben hat«, hörte ich sie noch auf Jiddisch vor sich hinmurmeln.
Und von mir? Was hat er von mir gewollt?, fragte auch ich.
»Was ich wollte, dass du weißt, weißt du«, hörte ich die Stimme meiner Mutter. Eine heiße Welle erfasste mich.
»Sag, hast du das kapiert?«, wandte sich Bracha an Dorit. Sie ließ nicht locker. »Hast du kapiert, dass ihre Mutter sie auf die Welt gebracht hat, als sie vierundvierzig Jahre alt war, noch dazu nach allem, was sie im Krieg durchgemacht hatte? Ein Wunder, wirklich ein Wunder!« Mit einem Blick auf mich sagte sie: »Und bestimmt hatte sie Geschwister, vielleicht hat ja eines von ihnen überlebt!«
Bracha spinnt, versuchte ich mich zu beruhigen.
»Gestern habe ich meine Periode bekommen«, hatte mir Bracha während des Turnunterrichts in der siebten Klasse zugeflüstert. »Und außerdem ist ein Bruder von Chajale im Krieg umgekommen.«
»Mama, hatte Chajale einen Bruder?«, fragte ich, als ich von der Schule nach Hause kam.
»Woher soll ich das wissen, bin ich ihre Mutter?«, fragte meine Mutter verwundert.
»Ich auch?«, fragte ich halb erstickt.
»Was du auch?«
»Hatte ich auch …«, stotterte ich.
»Du bist die einzige Tochter, die mir geboren wurde.« Ihr Blick durchbohrte mich, dann drehte sie
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