Das Schweigen meiner Mutter
geht’s deiner Mutter?«, fragte Gitl plötzlich und schob mir noch einmal die Dose mit Rosinen hin, und als ich mir nur ein paar herausnahm, wurde sie zornig und verlangte, ich solle mehr nehmen.
»Meine Mutter ist tot«, erinnerte ich sie und saß da, mit der Hand voller Rosinen.
»Soso, ich habe sie erst gestern bei Itta gesehen«, sagte sie streitbar.
»Wenn es nur so wäre«, platzte ich heraus. »Ich hätte einiges, was ich sie fragen möchte.«
»Sie ist eine kluge Frau«, sagte sie lobend über meine Mutter.
»Kennst du sie gut?«, fragte ich.
»Natürlich, ich sehe sie jeden Tag in der Krankenkassenambulanz. Sie arbeitet dort.«
Nichts hatte sich geändert, sagte ich mir, hier im Viertel blieben auch die Toten am Leben.
»Sie ist Krankenschwester«, informierte sie mich. Und dann fragte sie: »Und was machst du so?«
»Ich schreibe.«
»Was schreibst du?«
»Bücher.«
»Aha.« Sie hob die Augenbrauen. »Du schreibst, na gut, alle schreiben.« Sie erklärte ihrer Pflegerin: »Die Juden sind ein gebildetes Volk.« Dann fragte sie mich: »Was für Bücher hast du geschrieben?«
Ich sagte es ihr.
»Kenne ich nicht«, erklärte sie mit Nachdruck. Dann sagte sie zur Pflegerin: »Helena hat den Kopf eines Ministers. Ihre Tochter hätte Ministerpräsidentin werden müssen, wie Golda Meir.« Sie wandte sich wieder an mich. »Und du? Du schreibst. Na gut, worüber schreibst du?«
»Über Helena.«
»Also wirklich«, schimpfte sie, »sie will bestimmt nicht, dass man über sie schreibt, sie mag nicht, wenn man über sie spricht, bei ihr ist alles Schsch. Dann schreibst du wohl auch noch über ihren Mann?« Die Kaffeetasse, die sie in der Handhielt, zitterte, Kaffee schwappte heraus. »So eine Frechheit!«, fuhr sie mich an. »Sogar als ihr Mann gestorben ist, hat Helena noch nicht mal Schiwa gesessen, weil ihr Mann ein Geheimnis war.« Sie erzählte ihrer Pflegerin, die mit einem Tuch den verschütteten Kaffee aufwischte, der vom Tisch rann und auf Gitls Seidenkostüm tropfte: »Als er lebte, war er ein Geheimnis, und als er gestorben war, war er auch ein Geheimnis.«
»Was für ein Geheimnis?«, bedrängte ich sie.
»Nun, wirklich«, sagte sie erstaunt. »Das war ein Geheimnis.« Sie füllte sich den Mund mit Rosinen.
»Ich kannte die ganze Familie«, sagte sie zu ihrer Pflegerin, dann schimpfte sie auf sie ein, sie solle aufhören, sie mit einem unsauberen Tuch schmutzig zu machen.
Ich lächelte sie traurig an. Mir war klar, dass sie verwirrt war, dass ihre Erinnerungen ein einziges Durcheinander waren.
»Nancy, ich muss zu Helena gehen«, sagte Gitl plötzlich und machte ein erschrockenes Gesicht. »Ich spüre einen Druck. Hier.« Sie deutete auf ihr Herz.
Nancy lächelte mir zu, offenbar kannte sie Gitls Beschwerden. »Gut, gut«, sagte sie.
»Wir gehen«, verkündete Gitl und stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Wir gehen zu Dr. Wollmann und Helena.« Damit verabschiedete sie sich von mir.
Als ich das Café verließ, trug der Wind draußen einen Geruch mit sich, den ich liebte, den Geruch nach Stadt und Frühlingsblüte. Es dämmerte schon. Ich schaute auf das Viertel. Ein Viertel wie alle Viertel, sagte ich mir, und trotzdem gelang es mir nicht, es hinter mir zu lassen. Dieses Viertel trieb michin meine Erinnerungen, hielt mich fest. Mein früheres Leben war wieder da, nichts war in mir gestorben.
Lange stand ich so da. Mein Herz sagte mir, es ist an der Zeit, sich zu erinnern, zu wissen. Ich erschrak. Man kann nicht nach Hause zurückkehren, wenn das Zuhause nur noch in der Mottenkiste der Erinnerung existiert. Das war eine Formulierung aus einem der Reisebücher, die ich gelesen hatte. Mit der Mottenkiste der Erinnerung fuhr ich nach Hause.
Zu Hause warf ich meine Tasche mit den Geburtsurkunden meiner Eltern auf den Schreibtisch.
Hier kämpfte ich um das Leben danach, hier versuchte ich mit aller Kraft, zwischen meinem früheren und meinem heutigen Leben zu trennen, meinen Mann und die Kinder davon fernzuhalten. Ich lebte, wie meine Mutter es mir befohlen hatte – ohne Vergangenheit. Ich lebte für das Heute und für das Morgen. Doch auf einmal hatte dieses Mantra seine Kraft verloren.
Alle paar Minuten zog ich die Geburtsurkunden meiner Mutter und meines Vaters aus der Tasche und steckte sie wieder zurück.
»Ich schlage vor, du legst auch ihre Sterbeurkunden auf den Tisch«, mischte sich mein Mann plötzlich ein. Wie meine Mutter mochte auch er es nicht, in die
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