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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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meinen Plänen in Kenntnis zu setzen. Zusammen mit Aksam machte ich mich auf den Weg in den Kibbuz.

    »Bitte, sag mir zum Abschied wenigstens
schalom
«, hatte ich meine Mutter an dem Tag gebeten, als ich meinen Militärdienst antrat, ich hatte mich zu einer Einheit gemeldet, die Kibbuzim im Grenzgebiet bewachte.
    Meine Mutter hatte geschwiegen. Sie versuchte in der Küche mit einem alten, verrosteten Dosenöffner den Widerstand einer Sardinenbüchse zu brechen.
    »Ich werde im Kibbuz wohnen«, schrie ich laut.
    Ich wollte, dass sie reagierte.
    Es war die Büchse, die reagierte. Sie gab die Sardinen frei.
    »Schalom«
, schrie ich.
     
    Drei Jahre lang war ich im Kibbuz.
    Drei Jahre lang kam meine Mutter nicht zu Besuch.
    Wenn ich nach Hause kam, sagte sie
schalom
, wenn ich ging, sagte sie
schalom
, und in der Zeit dazwischen schwieg sie.
    Nur wenn ich Freunde aus dem Kibbuz mitbrachte, brach sie ihr Schweigen.
    »Banditen«, zischte sie vor sich hin.
    »Sie sind das Salz der Erde«, korrigierte ich sie.
    »Euer Salz der Erde haben sie in meine Wunden gestreut«, sagte sie ohne weitere Erklärung. Ihr Gesicht war plötzlich grau geworden, zwei tiefe Furchen gruben sich in ihre Stirn.
    »Du bist verrückt«, schrie ich sie an.
    »Warum schreit sie so«, murmelte sie. »Am Ende wird sie Gott noch aufwecken!«

    In einem kleinen Altersheim mit zerbrochenen Dachziegeln empfing uns Sarit, die Sozialarbeiterin des Kibbuz, eine schwerfällige, etwa dreißigjährige Frau mit müdem Blick. Wir betraten einen schmalen, engen Raum voller Tische mit Teetassen, es roch nach Medikamenten. Zehn alte Leute saßenhier und stierten vor sich hin, völlig reglos, als wären sie Teil einer Installation.
    »Das ist Ada Surewitsch«, sagte Sarit. Die alte Frau bedeutete mir mit einer Handbewegung, mich auf den leeren Stuhl zu setzen, der neben ihr bereits auf mich wartete.
    »Haben Sie meine Mutter wirklich schon vor dem Krieg gekannt?«, fragte ich sie ohne Umschweife.
    »Fast«, antwortete sie laut und deutlich.
    »Was heißt das: fast?«, wollte ich wissen.
    »Sie hat in Krakau gewohnt, neben dem Marktplatz.« Ihre Augen, die hinter ihrer großen Männerhornbrille kaum zu sehen waren, musterten mich von Kopf bis Fuß. »Ich habe ebenfalls dort in der Gegend gewohnt«, sagte sie würdevoll, »das war der schönste Teil von Krakau, neben der großen Kirche.« Sie war sichtlich stolz auf ihre früheren Besitztümer. »Als ich ein kleines Mädchen war, wollte ich immer in die Kirche gehen. Na ja, wer wollte nicht in die Kirche gehen? Bei uns, weißt du, ist eine Synagoge ja eigentlich nicht mehr als ein Ort, wo man sich versammelt   – wie hier, schau dich um   …« Ihr Blick wanderte durch den Aufenthaltsraum.
    »Sie haben sie also nie dort getroffen«, sagte ich und musste über mich selbst lachen, über meine Hoffnungen und Wünsche.
    »Dort nicht«, stellte sie richtig. »Aber hier, hier habe ich sie getroffen. Und Jakob auch.«
    »Sie haben meinen Vater gekannt?« Ich klammerte mich an das, was ich vielleicht bekommen konnte.
    »Fast gar nicht«, entgegnete sie. »Er war sehr krank. Der Ärmste, er wollte bleiben, er wollte Mitglied im Kibbuz werden, aber man hat ihn nicht genommen.« Ihre Augenwanderten über die vor sich hindämmernden menschlichen Exponate im Raum.
    »Warum nicht?«, fragte ich elektrisiert.
    »Du musst verstehen, es ist heute nicht so, wie es einmal war. Früher hat man hart gearbeitet. Und er,
nebbech
, konnte wegen seiner Krankheit nicht so arbeiten, wie es nötig gewesen wäre. Wir brauchten hier Leute, die Pflug und Waffe mit starker Hand zu führen vermochten, wir brauchten kräftige junge Frauen und Männer.« Um zu demonstrieren, was sie meinte, hob sie den Arm, spannte ihre schlaffen Muskeln und warf mir einen schelmischen Blick zu.
    »Teig«, sagte sie und lächelte angesichts ihrer jetzigen schändlichen Schwäche. »Aber früher war ich so, wie es nötig war.« Und mit einem plötzlich erwachten Interesse fragte sie: »Du bist also hergekommen, um im Kibbuz zu leben?«
    »Ich habe schon mal in einem gelebt.« Ich lächelte.
    »Und wer ist das?«, wollte sie wissen. Sie machte eine Kopfbewegung zu Aksam hinüber.
    »Der Freund einer Freundin«, antwortete ich.
    »Ein schöner Mann«, stellte sie fest. »Einer der unsrigen?«
    »Ja«, sagte ich. »Natürlich.«
    »Wird er in den Kibbuz kommen?«
    »Vielleicht«, sagte ich.
    Aksam lachte.
    Ada reckte den Hals und näherte ihren Mund meinem Ohr.

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