Das Schweigen meiner Mutter
Vergangenheit zurückzukehren.
»Was wirst du schon finden?«, fragte er.
»Wenn ich alt und welk bin, werde ich zumindest eine Biographie haben«, antwortete ich.
»Was ich wollte, dass sie weiß, weiß sie«, erinnerte er mich an den Satz, den meine Mutter vor ihrem Tod auch zu ihm gesagt hatte.
Dann hat sie es eben gesagt, antwortete ich ihm und ihr schweigend. Dann setzte ich mich an meinen Computer.
Mein Vater wurde 1918 in eine Familie geboren, die groß an Zahl war, und im Lauf der Zeit wurde aus ihr eine große Zahl an Vernichteten.
Meine Mutter wurde 1909 geboren, zur Zeit des Kriegs verlor sie vermutlich Mann und Kinder.
Nach dem Krieg wanderte mein Vater wie auch meine Mutter nach Israel aus, sie lernten sich in einem Kibbuz kennen, heirateten 1952 und zogen nach Tel Aviv. 1953, im Jahr meiner Geburt, war mein Vater weg, wurde aber dann und wann noch einmal gesichtet, wie er sich hinter einem Gebüsch in der Nähe des Kindergartens versteckte, in Fejges Küche und auch bei uns zu Hause, bis er für immer und ewig verschwand.
Mir war heiß. Eine neue Geschichte meines Lebens nahm in meinem Kopf Gestalt an und verdrängte die früheren, die ich mir ausgedacht hatte.
Spät in der Nacht nahm ich aus dem alten Album das Foto der Krakowiak-Tänzerin und stellte es auf das Regal in meinem Arbeitszimmer, neben die anderen Familienfotos.
»Was ist das?«, fragte mein Mann am nächsten Morgen, als er das Foto bemerkte.
»Familienzuwachs«, sagte ich.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte er und lächelte.
Das Klingeln des Telefons zerriss die morgendliche Stille. Bracha, dachte ich, bevor ich den Hörer abnahm. Ich hatte mich nicht geirrt.
»Ich habe eine Frau gefunden, die deine Mutter noch vor dem Krieg gekannt hat, diese Frau lebt in einem Kibbuz, und du wirst es nicht glauben, was für ein Zufall! Der Kibbuz ist nur fünf Minuten von Dorits Gästezimmern entfernt! Es hat mich fertiggemacht, du wirst es nicht glauben, fix und fertig.«
Auch mein Mobiltelefon klingelte. Ich sah auf dem Display Dorits Nummer. Warum, wer war jetzt gestorben?, fragte ich mich und beendete schnell das Gespräch mit Bracha.
»Bracha hat uns das beschert.« Dorits Stimme klang zufrieden.
»Was denn?«, erkundigte ich mich.
»Ich habe verstanden, dass du Ada Surewitsch treffen willst, eine Jugendfreundin deiner Mutter. Aksam hat dir schon ein Treffen mit ihr organisiert, und ich habe dir ein bisschen Verwöhnen organisiert – nach deinem Besuch im Kibbuz erwartet dich hier eine Massage und eine Suite für die Nacht. Du bist also übermorgen hier, um die Mittagszeit!« Dorit bekundete Realitätstüchtigkeit und Freundschaft par excellence, die beste Freundin hatte alles im Griff.
Ich wusste nicht, was tun. Obwohl ich beschlossen hatte, alles wissen zu wollen, war ich unschlüssig. Fahren oder nicht fahren? Das Für und das Wider kämpften in mir. Vielleicht hatte man mir nichts gesagt, um mich zu schützen? Vielleicht gab es ein Geheimnis, das ich besser nie erfahren sollte? Immer hatten alle betont, wie klug meine Mutter war, bestimmt hatte sie gewusst, was sie tat.
»Nur wenn du kommst, wirst du Bracha los«, sagte Dorit lachend. Und sachlich fügte sie hinzu: »Und es gibt nur eine Ada Surewitsch. Sie ist bestimmt die Letzte auf der ganzenWelt, die deine Mutter in ihrer Jugend gekannt hat, und bald wird sie ebenfalls verschwinden.«
Während Dorit redete, wurde mir klar: Leben ohne eine Biographie ist wie Leben ohne ein Bein, ohne ein Auge, ohne eine Niere. Ich würde fahren.
»Hallo, bist du noch da?«, hörte ich Dorit fragen.
»Ich bin übermorgen da«, sagte ich.
5
ALSO DORT IN DER SCHEUNE haben sich deine Eltern kennengelernt.« Dorit deutete auf den Kibbuz gegenüber.
»Vermutlich eher in der Sanitätsstation«, entgegnete ich.
»Jüdisch-polnische Romantik.« Dorit lachte. Ihre Stimmung hatte sich seit unserem letzten Zusammentreffen gebessert. Sie wirkte gelöst, frei wie der Wind über dem Weizenfeld, schoss mir ein zum Emek passendes Bild durch den Kopf.
»Ich habe Aksam gebeten, dich in den Kibbuz zu begleiten. Nach meinem Nachtdienst muss ich mich um die Gästezimmer kümmern. Aber ich habe dir, wie versprochen, ein Zimmer reserviert und dir auch eine Massage vor dem Schlafengehen organisiert.«
Ich hatte nicht vor, hier zu übernachten, aber ich schwieg. Warum sollte ich sie jetzt enttäuschen? Alles zu seiner Zeit. Ich hatte vor, sie erst nach meinem Besuch im Kibbuz von
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