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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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Leben gefleht hat, wie sie dem deutschen Schwein schwor, dass nicht sie es war, die das Brot gestohlen hatte, wie sie gebettelt hat, der Dieb solle sich melden, aber du hast geschwiegen, auch als man sie aufgehängt hat, hast du geschwiegen. Und wenn deine Kleine nicht hier wäre‹, fuhr sie fort und packte mich an der Schulter, ›hätte ich dir noch etwas gesagt.
Tfu!‹
Die Frau warf meiner Mutter einen eindeutigen Blick zu und spuckte auf den Boden. ›Gojim hat sie geliebt.
Tfu!‹
« Dorit seufzte. »Sie hat Rücksicht auf mich genommen, ha. Aber bis heute erinnere ich mich an die kleinen grauen Augen, die sich wie Dolche in meine Mutter bohrten und mir so wehtaten wie Tausend Nadeln. Danach kehrten wir nach Hause zurück.« Dorit senkte den Blick. »Und meine Mutter ging ins Badezimmer. Drei Tage im Badezimmer mit Kopfkissen, Decke und stinkendem Nachthemd. Und wieder bin ich zu dir gelaufen, zu Fejge, zu Chajale, zu allen Nachbarn. Bis heute erinnere ich mich an alle Toiletten des Viertels. Ich habe auf allen gesessen, ich habe zu jedem gesagt, unser Klo wäre verstopft, der Klempner wäre nicht gekommen. Diese Ausrede konnte ich in jedem Haus allerdings nur einmal anbringen, ich hatte Angst, jemand könnte misstrauisch werden. Eigentlich habe ich nur bei euch gesagt, dass meine Mutter im Badezimmer ist, nur deine Mutter hat es gewusst. Trotzdem hatte ich Angst, zu euch zu kommen, wegen dir, wegen deiner Neugier, ich hatte Angst, du könntestdie Wahrheit herausfinden. Was warst du doch für eine Plage!« Sie fand es offenbar an der Zeit, mir ein Kompliment zu machen. »Du warst eine, die fragte und fragte. So einer gegenüber konnte man nur schweigen, so wie deine Mutter es getan hat.«
    Dorit verstummte plötzlich, als wäre sie selbst erschrocken über den Monolog, mit dem sie mich überschüttet hatte. Sie wandte den Kopf zur Seite und ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand gegenüber. Sie sprang auf. »Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät zu meiner Nachtschicht.« Ihre Stimme klang gehetzt.
    Ihre Worte waren mir in die Seele gefahren. Ich spürte, nun könnte ich den schwarzen Löchern in mir nicht mehr ausweichen. Mir war klar, dass ich es wissen musste, dass ich die Leere nicht länger aushielt. Das, was ich ihr sagen wollte, blieb mir im Hals stecken, ich hatte das Gefühl, in einem Schmelzofen zu sitzen.
    »Bist du in Ordnung?«, erkundigte sich Dorit und schaute mich prüfend an. Und wieder entschuldigte sie sich, dass sie mich zum Besuch des Viertels überredet habe und nun gehen müsse. »Ich habe mich hinreißen lassen«, sagte sie, um den Wortschwall zu erklären, der aus ihr herausgebrochen war. »Aber es war mir wichtig, dir klarzumachen, dass man nicht alles wissen muss.«
    Mir wurde klar, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, ihr etwas zu sagen. Sie sollte lieber endlich gehen. So schwieg ich und lächelte.
    Ich dachte an meine Mutter und an all diejenigen, die ihre Augen verdrehten und den Blick von mir abwandten, die mir keine Antwort gegeben hatten, die mir auf vielerlei Art und Weise bedeutet hatten, dass man nicht alles wissen müsse.Ich wollte, dass sie jetzt aus meiner Erinnerung verschwanden, dass sie mich nicht länger daran hinderten, etwas zu wissen.
    »Ich habe deine Mutter sehr geliebt«, sagte Dorit, und obwohl sie die Tasche bereits über die Schulter gehängt hatte, setzte sie sich noch einmal. »Deine Mutter war die Einzige, die spät nachts bei meiner Mutter im Badezimmer saß, die auf sie aufpasste und sie überzeugte, dass es sich trotz allem lohnte zu leben.«
    Dorit rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, sie wirkte aufgewühlt.
    »Ich stand hinter der Tür, spähte hinein und lauschte. ›Wie geht es dir? Ich meine, abgesehen von der Gesundheit‹, fragte deine Mutter meine Mutter und versuchte, sie zum Reden zu bringen.«
    Ich sah die beiden vor mir, die eine im Nachthemd mit einem Kissen und einer Decke in der Badewanne, die andere im Kostüm, mit Perlenkette und dazu passenden Ohrringen auf dem Badewannenrand.
    »Hat meine Mutter etwas gesagt?«, fragte ich. »Hat sie etwas über sich selbst erzählt?« Sehnsucht überschwemmte mich.
    »Über sich selbst? Nein, nichts. Sie ist nur gekommen, um meiner Mutter zu helfen«, antwortete Dorit. »Und wenn meine Mutter geredet hat, hat deine Mutter nur zugehört. Die meiste Zeit haben beide geschwiegen, aber am Schluss hat meine Mutter angefangen zu reden, und diese Sache mit dem Brot   – meine Mutter

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