Das Schweigen
Sinikka auf dem Tisch hatte eine Schüssel mit
Milch und Haferflocken gestanden.
Nurmela hatte nach Worten gesucht. Die anderen
hatten geschwiegen.
»Sinikka ... ist wieder da«, hatte Kalevi Vehkasalo
schließlich gesagt.
Ruth Vehkasalo hatte lautlos geweint.
»Im Wald«, hatte Sinikka geantwortet, als Nurmela
sie gefragt hatte, wo sie die vergangenen Tage verbracht
habe.
In dem Wald, durch den sie jetzt liefen.
»Sind wir bald da?« fragte Nurmela zum wiederholten
Male. Sinikka nickte und lief weiter und weiter, bis
Joentaa sich vorstellte, nie anzukommen, und dann
blieb Sinikka doch noch stehen und schien sich darüber
zu wundern, dass sich ihre Begleiter wunderten.
Sie deutete nach oben. Nurmela atmete aus, wie nach
einer großen Anstrengung. Sundström begann nach
Sekunden der Verblüffung, leise zu kichern.
Sie standen eine Weile, reckten die Hälse und be-
trachteten das Baumhaus unter dem klaren Himmel.
»Das habe nicht ich gebaut«, sagte Sinikka. »Ich habe
es nur gefunden. Letzten Sommer.«
»So«, sagte Nurmela.
»Ich wusste gleich, dass ich es so machen würde. Hier
kommt nie jemand vorbei.«
»Kann ich mir denken«, sagte Nurmela.
»Irre«, sagte Sundström.
Sinikka kletterte nach oben. Nurmela nahm
Schwung, rutschte ab und stürzte zu Boden.
»Das ist nichts für mich«, murmelte er, während er
sein Jackett richtete.
»Wem sagst du das«, sagte Sundström.
Auch Joentaa brauchte einige Anläufe, um sich in das
Baumhaus zu hieven. Dann saß er neben Sinikka. Ihm
war schwindlig. Die Dinge, die Sinikka ihm zeigte, sah
er wie durch einen Schleier. Eine Tüte mit Vorräten.
Vorwiegend Dosen. Ein kleines, rechteckiges Radio.
»Der Empfang war ziemlich gut«, sagte sie, während
er das Radio anstarrte.
Das Haus wirkte stabil und bot überraschend viel
Platz. Sinikkas linke Hand war mit dicken Pflastern
bandagiert.
»Die Wunden ... hast du dir selbst zugefügt?« fragte
Joentaa.
Sinikka nickte. »Das Blut war doch wichtig, oder?«
»Vermutlich ja«, antwortete Joentaa und dachte an
das, was Ketola gesagt hatte. Eine alberne Idee. Die
albernste, die man sich vorstellen konnte.
»Hast du wirklich gedacht, dass das hier ... dass es
funktionieren würde?«
Sie sah ihn lange an. Dann zuckte sie mit den Achseln
und sagte: »Keine Ahnung.«
»Wie lange wärst du denn hier geblieben? Wenn es
nicht ... wenn dein Plan nicht funktioniert hätte ...«
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Möglichst lange.«
»Was ich nicht verstehe ... du musst doch überlegt
haben ... wegen deiner Eltern ... und natürlich auch dei-
nen Freunden und Freundinnen ... du musst doch
überlegt haben, wie sie reagieren würden ...«
Wieder sah sie ihn lange an.
»Alles klar bei euch?« rief Sundström von unten.
Joentaa beugte sich vor und sah die beiden nebenei-
nander am Boden stehen. Nurmela hielt sich den Arm
und stieß leise Flüche aus. Vermutlich hatte er sich bei
seinem Sturz vom Baum wehgetan.
»Wir kommen gleich runter«, rief Joentaa.
Er bekam von Sinikka keine Antwort mehr auf seine
Frage. Vermutlich gab es keine. Zumindest keine, die er
verstanden hätte.
Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen
waren. Dieses Mal liefen Nurmela und Sundström voran,
Nurmela redete auf Sundström ein, plante die nächsten
Stunden dieses Tages. Er hielt den Arm im rechten Win-
kel, als sei er gebrochen, und sprach ununterbrochen,
allerdings ruhig und beherrscht. Man konnte Nurmela
mögen oder nicht, er konnte pathetisch sein, wie auch
jetzt, mit dem Arm, aber niemand durfte ihm vorwerfen,
in schwierigen Situationen nicht kühlen Kopf zu be-
wahren.
Sinikka ging neben Kimmo und hörte den beiden vor
ihnen laufenden Männern aufmerksam zu. Joentaa
hatte den Eindruck, dass ihr erst jetzt, in den Minuten, in denen sie Nurmela und Sundström angeregt diskutieren
hörte, eine Ahnung von der Tragweite ihres Handelns
dämmerte.
Sie fuhren schweigend. Nurmela kritzelte Notizen in
ein kleines Buch und wies beiläufig daraufhin, dass sein
Arm nur verstaucht sei, für den Fall, dass sie sich Sorgen machten.
»Keine Angst, wir machen uns keine Sorgen«, sagte
Sundström.
Vor dem hellgrünen Haus wartete Ruth Vehkasalo
auf die Rückkehr ihrer Tochter.
5
Nurmela bewältigte die Notwendigkeiten des Tages
souverän und beängstigend effizient.
Er führte ein Gespräch mit Sinikkas Eltern, in dem er sie dafür sensibilisierte, dass es nicht vorbei war.
Er teilte ihnen
Weitere Kostenlose Bücher