Das Schweigen
Abend habe ich das Modell in den Keller
gestellt. In meine Rumpelkammer. In die hinterste
Ecke.«
Ketola hob den Blick und sah Joentaa zum ersten Mal
seit Beginn seines Redeflusses in die Augen.
Joentaa wich aus. »Und weiter?« fragte er.
»Nichts weiter«, sagte Ketola.
»Nichts weiter.« Er sah Ketola an und spürte den Im-
puls zu lachen. Laut loszulachen. Stattdessen stand er
auf und ging auf das Modell zu, das auf seinen abgenutz-
ten Rädern neben Ketola stand.
»Was heißt hier ...«, begann er, aber dann hörte er ein
Rauschen, ein Rauschen, das seine eigenen Worte über-
tönte, und er holte weit aus und trat mit aller Kraft
gegen das Modell, das gegen die Terrassentür schlug,
sich von den Rädern löste und in ein Blumenbeet fiel.
»Was heißt hier, nichts weiter?!« schrie Joentaa. »Was
soll denn das heißen!!?«
Ketola betrachtete das Modell im Blumenbeet.
»Wo ist Sinikka Vehkasalo?!« schrie Joentaa.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Ketola.
»Sinikka Vehkasalo ... lebt ...«, sagte Joentaa.
»Natürlich lebt sie«, sagte Ketola.
Natürlich ...
»Sie hat einfach das wahrgemacht, was sie angekün-
digt hat. Ich konnte das ja selbst nicht fassen... ich habe hin- und herüberlegt, wie ich reagieren soll, und schließ-
lich beschlossen, ihr eine faire Chance zu geben.«
»Eine was?«
»Ja, ich habe alles getan, um das, was sie angefangen
hat, fortzusetzen ... das Interview mit Elina ... ich habe auch die ganze Zeit versucht, euch ... den rechten Weg
zuweisen ...«
»Den rechten Weg zu weisen ...«
»Ja, ich wusste ja, dass Sinikka lebt, deshalb wollte
ich, dass ihr euch auf Pia konzentriert, dass ihr wirklich den alten Fall neu aufrollt ...«
»Bist du wahnsinnig?«
»Wie bitte?«
»Bist du wahnsinnig?« wiederholte Joentaa.
Ketola schwieg.
»Wie kannst du den Eltern von Sinikka gegenübertre-
ten in dem Wissen, dass ihre Tochter noch am Leben ist?«
»Das ist mir nicht leicht gefallen. Du weißt das ... ich
bin ... es hat mich gequält ... du erinnerst dich sicher ...
als wir bei den Eltern waren ...«
»Ja. Ich erinnere mich.«
»Ich habe sehr lange über all das nachgedacht, und ich
war kurz davor, dir schon am ersten Tag alles zu sagen,
aber dann ... etwas hat mich davon abgehalten, es ist
schwer ... ich kann es dir nicht erklären ... vermutlich
habe ich einen Fehler gemacht ...«
»Ja. Gut möglich.«
»Aber sieh dir doch an, was passiert ist ... das ist doch
das Verrückte ... Sinikka hat recht gehabt ... das ist
doch das Verrückteste an der Sache!«
Joentaa nickte.
»Es ist vorbei, Kimmo«, sagte Ketola.
Joentaa nickte.
»Das Mädchen ... Sinikka ... wird zurückkommen.«
Joentaa nickte.
»Bald«, sagte Ketola.
»Sicher«, sagte Joentaa und fühlte sich plötzlich sehr
leicht und sehr müde. »Sicher«, sagte er noch einmal.
Dann trat er vor das Blumenbeet, ging in die Hocke,
hob das Modell auf und verankerte es wieder auf dem
Gestell mit den Rädern. Er stellte es neben Ketola ab.
»Danke«, sagte Ketola.
Joentaa setzte sich.
»Sicher«, sagte er wieder.
Er fror ein wenig und erinnerte sich an eine durch-
wachte Nacht und einen Morgen am Meer. In einem
holländischen Badeort, er hatte den Namen vergessen.
Sanna hatte neben ihm auf dem Sand gelegen und ge-
schlafen, und ihr Schnarchen hatte das Rauschen der
Wellen übertönt.
»Sundström wird mir den Hals umdrehen«, sagte Ke-
tola. »Aber keine Sorge, ich rede mit ihm. Das kriegen
wir schon hin ... ich trage die Konsequenzen, wenn es
denn welche geben sollte ...«
»Klar«, murmelte Joentaa. Er hörte kaum zu. Er
dachte an Sanna. An den Moment, in dem ihr Puls aus-
gesetzt hatte. Er hatte es an seinen Fingern gespürt. Das
Ausbleiben, das Sannas Tod signalisierte. Er hatte sich
wachgehalten, Nacht für Nacht, um in dieser einen Se-
kunde bei ihr zu sein.
Er dachte an Sinikka Vehkasalo und versuchte, sich
den Tag vorzustellen, an dem Sanna vor der Tür stehen
würde, um ihm zu sagen, dass alles ganz anders sei.
Er suchte Ketolas Blick, aber er fand ihn nicht.
Bald, hatte Ketola gesagt.
Das Wort hallte in seinen Gedanken nach, während
sie gemeinsam ins Leere starrten.
13. JUNI
I
Um kurz nach sechs rief Sundström an.
»Ich stehe hier vor deiner Haustür. Wo bist du denn?«
fragte er.
»Weg«, sagte Joentaa.
»Wie bitte?«
»Es entwickelt sich alles anders als erwartet«, sagte
Joentaa.
»Was?«
»Ich fahre jetzt hier los. Ich bin in einer
Weitere Kostenlose Bücher