Das Schweigen
halben
Stunde da, und dann reden wir.«
»Wo bist du denn? Hallo?«
»Bis gleich«, sagte Joentaa und unterbrach die Ver-
bindung. Er erhob sich mühsam.
»Sundström?« fragte Ketola.
Kimmo nickte. »Wir wollten nach Helsinki fahren.
Also ... bis später.«
»Bis später«, sagte Ketola.
Joentaa lief über den Rasen, der seine Schritte
schluckte, und fühlte sich schwerelos. Während er fuhr,
dachte er vage darüber nach, was er Sundström erzäh-
len sollte. Vermutlich gar nichts. Er würde ihm sagen,
dass er erst mal ein, zwei Stunden schlafen werde. Dann
würde man weiter sehen.
Er fuhr einen Umweg.
Über dem hellgrünen Haus lag Stille.
Er wusste nicht, was er ihnen sagen würde. Er wuss-
te nur, dass er mit Sinikkas Eltern sprechen musste.
Sofort.
Er wollte gerade aussteigen, als er im Rückspiegel das
Mädchen sah. In einiger Entfernung. Sie lief sehr lang-
sam, aber unangestrengt, fast beschwingt, hielt den
Kopf gesenkt und schien sich darauf zu konzentrieren,
die eigenen Schritte zu zählen.
Sie kam näher. Jetzt erkannte Joentaa den Rucksack
über ihrer Schulter und den Schlafsack und die Matte
unter dem Arm. Für einen Moment wunderte er sich,
dass den Eltern das Verschwinden dieser Gegenstände
nicht aufgefallen war. Aber wenn er Sinikka richtig ein-
schätzte, hatte sie die Sachen neu gekauft und frühzeitig
gut versteckt.
Sie war gut vorbereitet gewesen auf dieses ... Aben-
teuer.
Vor dem hellgrünen Haus blieb sie stehen. Nach einer
Weile setzte sie sich auf die erste Stufe der Treppe, die
zur Eingangstür führte.
Sie schien zu warten. Auf das Erwachen ihrer Eltern.
Oder auf den Impuls, die Klingel zu drücken. Oder auf
etwas ganz anderes.
Auch Joentaa wartete noch eine Weile, dann wendete
er den Wagen und fuhr einem Tag entgegen, der so
sommerlich zu werden versprach wie die zuletzt ver-
gangenen.
2
Ruth Vehkasalo lag wach. Auch Kalevi war erst am
Morgen eingeschlafen. Sein Gesicht wirkte entspannt
und war gleichzeitig von Schmerz verzerrt.
Ruth Vehkasalo wandte sich ab und legte sich auf den
Rücken. Sie war erleichtert, endlich allein zu sein.
Endlich wirklich allein. In der Nacht hatte sie sich
schlafend gestellt, um nicht mehr mit Kalevi sprechen
zu müssen. Weil sie einfach nicht die Kraft gehabt
hatte, auch nur ein weiteres Wort zu wechseln.
Kalevi war rastlos durch das Haus gelaufen. Hatte sich
ins Bett gelegt, war nach Minuten aufgesprungen, hatte
das Zimmer verlassen, war zurückgekehrt und wieder
gegangen und wieder zurückgekehrt. Hatte aufrecht im
Bett gesessen, sehr bewusst und konzentriert ein- und
ausgeatmet und sich von Zeit zu Zeit vorsichtig über sie
gebeugt, um sich zu vergewissern, dass sie schlief. Dann
hatte er eine Weile ganz leicht ihre Schulter gestreichelt und nicht aufgehört, sich auf die Gleichmäßigkeit
seines Atmens zu konzentrieren.
Am Abend hatten sie im Fernsehen einen See gezeigt
und das Auto eines Mannes, der in dem See, in dem
Auto zu Tode gekommen war. Ruth Vehkasalo hatte
vor dem Fernseher gekniet, Kalevi hatte in gebeugter
Haltung auf der Sofakante gesessen und Worte
gesprochen, die keinen Sinn ergeben hatten. Dass er das
Schwein fertig machen werde. Einen Mann, der nicht
mehr lebte und den sie gar nicht kannten. Noch nicht
einmal seinen Namen.
Irgendwann hatte Kalevi aufgehört, einen Unbe-
kannten, Namenlosen zu beschimpfen, und hatte bei
der Polizei angerufen, um Näheres zu erfahren. Aber es
gab nichts Näheres. Wenigstens hatte man ihm nichts
Näheres gesagt.
Dann hatte er sich wieder auf die Sofakante gesetzt
und begonnen, über Sinikka zu sprechen. Hatte einfach
angefangen und nicht mehr aufgehört, über Sinikka zu
sprechen, hatte Erinnerungen aus tiefsten Winkeln ge-
zerrt, hatte gesprochen mit einer Stimme, die aus der
Ferne, aus einem anderen Raum zu kommen schien,
und sie hatte sich darauf konzentriert, nicht zuzuhören.
Sie hatte auf das Verebben des Redeflusses gewartet.
Im Fernsehen hatte ein Quiz begonnen, und Kalevi
hatte Filme aus dem Keller geholt und die Kamera an
den Videorekorder angeschlossen, ohne sich weiter um
ihre Widerrede zu kümmern.
»Lass es uns einfach versuchen«, hatte er gesagt.
»Wenn es nicht gut ist, stoppen wir einfach. Aber ich
glaube, es wird uns gut tun ...«, hatte er gesagt, sein
Kopf war ganz rot gewesen, so wie manchmal, wenn er
zu schnell aß oder wenn er sonntags vom Joggen
zurückkam.
Auf dem Bildschirm war das
Weitere Kostenlose Bücher